[Lehre von Patientensicherheit im deutschsprachigen Raum: von Kinderschuhen und blinden Flecken]
Jan Kiesewetter 1Sabine Drossard 1,2
Tanja Manser 3
1 Klinikum der LMU München, Institut für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin, München, Deutschland
2 Universitätsklinikum Augsburg, Klinik für Kinderchirurgie und Kinderurologie, Augsburg, Deutschland
3 Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Hochschule für Angewandte Psychologie, Otten, Schweiz
Leitartikel
Nachdem das Thema Patientensicherheit vermehrt in das wissenschaftliche und öffentliche Interesse gerückt ist wurde auch die Lehre über Patientensicherheit in den letzten Jahren nach und nach an vielen Universitäten in das Medizinstudium integriert. Der Ausschuss Patientensicherheit und Fehlermanagement der Gesellschaft für Medizinische Ausbildung hat diesen Prozess vor mittlerweile drei Jahren mit dem Lernzielkatalog Patientensicherheit für das Medizinstudium flankiert [1]. Kurz darauf kam die Idee auf, ein Themenheft zur Lehre von Patientensicherheit im deutschsprachigen Raum zusammenzustellen. Vor allem wollte der Ausschuss damals feststellen, in welchen Bereichen der Lehre von Patientensicherheit in Deutschland forschende Lehrpraxis, einzelne Lehrprojekte oder Modellversuche bestehen. Selbstverständlich kann mit diesem Themenheft keine auch nur annähernd vollständige Erhebung der deutschsprachigen Lehrszene Patientensicherheit dargestellt werden. Einige Arbeiten sind in regulären Ausgaben des Journal for Medical Education enthalten, andere Manuskripte möglicherweise in lehrmethodisch fokussierten spezifischen Zeitschriften der einzelnen medizinischen Fächer untergebracht. Nichtsdestotrotz ist interessant, welche im Lernzielkatalog Patientensicherheit für das Medizinstudium enthaltenen Ziele und Kompetenzen in den hier publizierten Arbeiten angesprochen sind, in welchen Fachbereichen diese verortet sind, ob es ein Wahl- oder Pflichtkurs ist, wie viele Studierende davon potenziell profitieren, ob mono- oder interprofessionell gelehrt wird und ob es als eigene Veranstaltung organisiert oder an andere Fächer angegliedert ist.
Auf der anderen Seite ist es mindestens genauso spannend zu erfahren, wo es blinde Flecken gibt, sprich im Lernzielkatalog enthaltende Lernziele bisher keine (publizierte) Abdeckung im deutschsprachigen Raum erfahren. Hieraus können im nächsten Schritt Vermutungen abgeleitet werden, worin diese Nicht-Abdeckung begründet sein könnte und wie diesem Defizit lokal sowie hochschulpolitisch strukturell und organisatorisch entgegenzuwirken sein könnte.
In den hier publizierten Manuskripten finden sich sowohl die durch die Autoren des Lernzielkatalogs als essentiell eingestuften Begriffe zum Thema Patientensicherheit wie beispielsweise. Fehler, Schuld oder Verantwortung [2] als auch Arbeiten zu Ausmaß und Epidemiologie mit den Hotspots Hygiene [3], [4], Arzneimitteltherapiesicherheit und Polypharmazie [5]. In einem umfangreichen Kurs an der Universität Marburg werden diese patientensicherheitsrelevanten Themen noch um Fehlerquellen bei der Diagnose- und Indikationsstellung ergänzt. Auch unerwünschte Ereignisse, sogenannte adverse events und damit im Zusammenhang stehende Organisationsfaktoren sind als Lernziel in diesen und einen weiteren Kurs eingebettet [2], [6].
Ebenso werden zum Thema Schnittstellen in gleich zwei Umfragestudien Desiderate formuliert, Übergaben zu verbessern [7] und diese vermehrt im interprofessionellen Kontext zu lehren und zu prüfen [8]. Erste Ansätze, dies im Rahmen der medizinischen Ausbildung zu implementieren, sind an anderer Stelle zu finden [9]. Angrenzend hierzu wurden abgregrenze klinische Arbeitseinheiten, die „entrustable professional acitivities“, für Studierende im praktischen Jahr untersucht [10].
Innerhalb der Lehre von Strategien zur Patientensicherheit wird möglicherweise in Lehrveranstaltungen zu Qualitätsmanagement auf Dokumentationen und existierende Standards eingegangen, Einreichungen zu diesen Teilbereichen blieben im Themenheft aus. In zwei vorgestellten Forschungsprojekten [6], [11] werden Studierende für das Erkennen von aufgetretenen Schäden innerhalb einer Behandlung sensibilisiert und in der Identifizierung von Fehler-begünstigenden Faktoren ausgebildet. Weiterhin wurde ein innovativer Lehransatz zum interprofessionellen Ernährungsmanagement auf der Schnittstelle zwischen Lehre und klinischer Versorgung veröffentlicht welcher im Ansatz verschiedenste Lehrziele erfüllt [12].
Trotz des sehr breiten Spektrums der Arbeiten innerhalb des vielschichtigen Themas Patientensicherheit wurden nicht zu allen im Lernzielkatalog benannten Kategorien Arbeiten eingereicht. Insbesondere fällt auf, dass Projekte die im Zusammenhang mit Lernzielen zu elektronischen und mobilen Geräten sowie der Mensch-Maschine-Interaktion stehen, in diesem Themenheft nicht präsent sind. Dies ist insbesondere im Zusammenhang der stark vorangetriebenen Digitalisierung im Gesundheitswesen bedenklich: Ursachen hierfür könnten darin liegen, dass die Studien oder Lehreinheiten an anderer Stelle publiziert wurden, oder auch dass Lehreinheiten so neu sind, dass die Daten noch nicht vorliegen. Wichtig erscheint, dass wenn Medizinstudierenden der Umgang mit und die möglichen Fehlerquellen digitaler Gesundheitsversorgung nicht näher gebracht werden, dies neue Risikopotenziale erzeugt. Umgekehrt bietet diese Entwicklung die Möglichkeit Lehreinheiten zu entwickeln, die sowohl Wissen zum Thema Patientensicherheit als auch fachlich-inhaltliches Wissen vermitteln.
Bei den hier veröffentlichten Artikeln stehen Lernziele, die sich auf die individuelle Ärztin bzw. den individuellen Arzt beziehen nicht im Fokus. Insbesondere die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit, die Einschätzung der eigenen Kompetenz sowie die Offenlegung der eigenen Fehler im Sinne eines „open disclosure“ stellen jedoch ein großes Potenzial für Lehrinnovationen dar. Im Rahmen des Masterplan Medizinstudium 2020 gibt es bereits erste Ansätze, die Kommunikation von Fehlern zielgerichtet zu vermitteln [13]. Veranstaltungen, die Wissen um eigene Belastungsfaktoren sowie den Umgang mit diesen und den damit einhergehenden Emotionen vermitteln, könnten diese Lehreinheiten sinnvoll ergänzen. Medizinstudierenden den Umgang mit belastenden Situationen zu vermitteln und die Möglichkeit von Hilfsangeboten aufzuzeigen, ist auch in Anbetracht dessen, dass sich 59% aller Ärzte durch ihre Tätigkeit psychisch belastet fühlen und 2-3% als klinisch depressiv einzustufen sind, dringend geboten [14], [15]. Trainingskonzepte zu diesem Thema wurden vor kurzem entwickelt, sind jedoch bislang nicht auf ihre Wirksamkeit erforscht [16].
Es ist verständlich, dass die Patientensicherheit in diesem Themenheft als relativ neue, noch nicht im Curriculum als eigenständiges Fach vorgesehene Lehrdisziplin lückenhaft abgedeckt ist. Andererseits ist es jedoch ermutigend, wie viele Lehrprojekte in den letzten Jahren an vielen verschiedenen Standorten entstanden sind. Wir hoffen, dass die hier erschienenen Artikel anderen WissenschaftlerInnen und CurriculumsentwicklerInnen als Inspiration dienen das Thema Patientensicherheit in die Lehre zu integrieren.
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
Literatur
[1] Kiesewetter J, Gutmann J, Drossard S, Gurrea Salas D, Prodinger W, Mc Dermo tt F, Urban B, Staender S, Baschnegger H, Hoffmann G, Hübsc h G, Scholz C, Meier A, Wegscheider M, Hoffmann N, Ohlenbusc h-Harke T, Keil S, Schirlo C, Kühne-Ev ersmann L, Heitzmann N, Busemann A, Koechel A, Manser T, Welbergen L, Kiesewetter I. The Learning Objectiv e Catalogue for Patient Safety in Undergraduat e Medical Education – A Position Statement of the Committ ee for Patient Safety and Error Management of the German Association for Medical Education. GMS J Med Educ. 2016;33(1):Doc10. DOI: 10.3205/zma001009[2] Hoffmann N, Kubitz JC, Götz AE, Beckers SK. Patient safety in undergraduate medical education: Implementation of the topic in the anaesthesiology core curriculum at the University Meidcal Center Hamburg-Eppendorf. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc12. DOI: 10.3205/zma001220
[3] Bäwert A, Holzinger A. Practice makes perfect" Patient safety starts in medical school: Do instructional videos improve clinical skills and hygiene procedures in undergraduate medical students?. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc16. DOI: 10.3205/zma001224
[4] Richter A, Chaberny IF, Surikow A, Schock B. Hygiene in medical education – Increasing patient safety through the implementation of practical training in infection prevention. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc15. DOI: 10.3205/zma001123
[5] Kirsch V, Johannsen W, Thrien C, Herzig S, Matthes J. "Hopefully, I will never forgot that again" – sensitzing medical students for drug safety by working on cases and simulation doctor-patient communication. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc17. DOI: 10.3205/zma001225
[6] Opitz E, Heinis S, Jerrentrup A. Concept and contents of a voluntary course for medical students' achievement of a basic qualification in patient safety during the practical year of medical studies. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc20. DOI: 10.3205/zma001228
[7] Ricklin ME, Hess F, Hautz W. Patient safety culture in a university hospital emergency department in Switzerland – a survey study. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc14. DOI: 10.3205/zma001222
[8] Hinding B, Dies N, Gornostayeva M, Götz C, Jünger J. Patient handover – the poor relation of medical training?. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc19. DOI: 10.3205/zma001227
[9] Hynes H, Stoyanov S, Drachsler H, Maher B, Orrego C, Secanell M, Stieger L, Druener S, Schroeder H, Sopka S, Henn P. Designing Learning Outcomes for Handoff Teaching of Medical Students Using Group Concept Mapping: Findings From a Multicountry European Study. Acad Med. 2015;90(7):988-994. DOI: 10.1097/ACM.0000000000000642
[10] Czeskleba A, Holzhausen Y, Peters H. Patient safety during final-year clerkships: A qualitative study of possible error sources and of the potential of Entrustable Professional Activities. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc18. DOI: 10.3205/zma001226
[11] Wipfler K, Hoffmann JE, Mitzkat A, Mahler C, Frankenhauser S. Patient safety – Development, implementation and evaluation of a interprofessional teaching concept. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc13. DOI: 10.3205/zma001221
[12] Braun B, Grünewald M, Adam-Paffrath R, Wesselborg B, Wilm S, Schendel L, Hoenen M, Müssig K, Rotthoff T. Impact of interprofessional education for medical and nursing students on the nutritional management of in-patients. GMS J Med Educ. 2019;36(2):Doc11. DOI: 10.3205/zma001219
[13] Manser T, Hoffmann S. Wenn es nicht gelaufen ist, wie es laufen sollte. Umgang mit eignen Fehlern, Fehlerkommunikation. In: Jünger J, ed. Ärztliche Kommunikation. Praxisbuch zum Masterplan Medizinstudium 2020. Stuttgart: Schattauer Verlag; 2018.
[14] Schüler J, Dietz F. Kurzlehrbuch Medizinische Psychologie und Soziologie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2004. DOI: 10.1055/b-002-21521
[15] Buser K, Schneller T, Wildgrube K. Medizinische Psychologie, medizinische Soziologie: Kurzlehrbuch zum Gegenstandskatalog. München: Elsevier, Urban & Fischer Verlag; 2007.
[16] Kiesewetter J, Dimke B. Resilience training for health care professionals and medical students: An instructional manual. Independently published; 2018.