[Improvisation – eine neue Strategie in der medizinischen Ausbildung?]
Sigrid Harendza 11 Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, III. Medizinische Klinik, Hamburg, Deutschland
Leitartikel
Plötzlich ist alles anders. Ein Virus hält die Welt in Atem und die medizinische Ausbildung auch. Dabei wissen die älteren Lehrenden unter uns ziemlich gut, was es mit Viruserkrankungen auf sich hat und wie diese auch die medizinische Aus- und Weiterbildung verändern. Während meiner Studienzeit begann die HIV-Epidemie, die auch nach weit über 30 Jahren immer noch weiteres Lernen erfordert [1], also das Lernen von Inhalten, die damals in meinem Studium noch gar nicht unterrichtet werden konnten. Ähnlich verhält es sich mit der Viruserkrankung Hepatitis C. Hieß sie während meiner Studienzeit noch Hepatitis non-A non-B [2], so erhielt sie seither ihren heute gebräuchlichen Namen und alle, auch die Lehrenden, mussten über die nächsten Jahrzehnte hinweg verstehen lernen, dass keine Impfung möglich geworden ist, aber immerhin inzwischen Medikamente entwickelt wurden, mit denen sich das Hepatitis C Virus eliminieren lässt [3]. Mit solchen inhaltlichen Einflüssen von Krankheitserregern auf das Medizinstudium ließ sich durch die Veränderung der Lernziele, angepasst an den medizinischen Fortschritt, relativ leicht umgehen.
Bei strukturellen Veränderungen, die im Lehrbetrieb durch Epidemien erforderlich werden können, sind Anpassungsprozesse nicht ganz so leicht umzusetzen. Während der EHEC-Epidemie im Jahr 2011 waren auf unseren nephrologisch-internistischen und einigen weiteren Stationen des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf fast ausschließlich Patientinnen und Patienten untergebracht, die an durch EHEC verursachtem hämolytisch-urämischem Syndrom (HUS) litten [4]. Dies ist ein seltenes Krankheitsbild, von dem Studierende gemäß Hamburger Lernzielkatalog zum damaligen Zeitpunkt nur gehört haben mussten [5]. Innerhalb von zwei Wochen war es für die PJ-Studierenden in der Inneren Medizin fast nicht mehr möglich, Patientinnen und Patienten mit anderen Krankheiten zu sehen. Also mussten wir als Lehrende – neben der Versorgung der Patientinnen und Patienten – den Unterricht improvisieren und vielleicht haben die damaligen PJ-Studierenden etwas weniger über verschiedene Krankheiten gelernt, aber dafür eine Menge über ärztliches Verhalten in unbekannten klinischen Situationen. Im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog (NKLM) von 2015 wird das HUS unter Punkt 21.1.58 zwar immer noch als eine seltene Erkrankung geführt [http://www.nklm.de, Zugriff: 04.05.2020], aber die Bewertung mit Kompetenzebene A beinhaltet auf alle Fälle heute umfangreicheres Wissen als nur die Kenntnis des Krankheitsnamens.
Nun ist es im Jahr 2020 also wieder ein Erreger, der die medizinische Ausbildung beeinflusst. Aber diesmal betrifft die Veränderung alle Lehrenden und alle Studierenden und fast alle Unterrichts- und Prüfungsstrukturen im Medizinstudium und auch in allen anderen Studiengängen der Gesundheitsberufe sowie in allen Studiengängen überhaupt – und das weltweit [University World News: https://www.universityworldnews.com/post.php?story=20200324065639773, Zugriff: 02.05.2020]. Für das Medizin-, Zahn- und Tiermedizinstudium, aber auch für das Studium anderer Gesundheitsberufe sehen wir uns im bisherigen Studienalltag mit einer ziemlich kleinteiligen Unterrichtsstrukturierung konfrontiert, die Lerninhalt und -form an den meisten Hochschulen bis in die einzelne Unterrichtsstunde hinein vorschreibt. In der derzeitigen Situation, die uns vermutlich über die nächsten Monate oder gar Jahre beschäftigen wird, sind jedoch Improvisationsvermögen und Flexibilität unter Wahrung des übergeordneten Ausbildungsziels gefragt. Für die fachärztliche Weiterbildung forderten van Loon und Scheele vor kurzem eine Abkehr von Systemvorschriften und eine Hinwendung zur Befähigung von Lehrenden zur curricularen Innovation, die „nur“ an den Ausbildungszielen orientiert ist [6]. Vertrauen in die kreative Gestaltung des Curriculums durch Lehrende und deren Befähigung zu freieren Gestaltungsmöglichkeiten [6] sollten auch rasches Handeln an Hochschulen in Zeiten eines Pandemie-bedingten Lockdowns ermöglichen. Eine solche Art des Handelns, also die Entwicklung von eigenen Strategien im Rahmen der aktuellen eigenen Möglichkeiten unter Kenntnis des globalen Zieles, aber ohne Vorschrift aller einzelnen Detailschritte, wird beim Militär als Auftragstaktik bzw. Führen mit Auftrag bezeichnet. Diese Führungsmethode hat sich vor allem in unübersichtlichen Situationen zum Erreichen eines globalen Zieles sehr bewährt [7].
Der Erwerb von Kenntnissen im Improvisieren wird beispielsweise für Lehramtsstudierende explizit gefordert und zum Teil auch im Unterricht schon praktiziert [8]. Für Lehrende der Medizin und Medizinstudierende scheinen solche Techniken des Improvisationstheaters ebenfalls nützlich zu sein – und zwar sowohl für die ärztliche Tätigkeit als auch für das Unterrichten von Medizinstudierenden bzw. für die Gestaltung des Unterrichts [9]. Das medizinische Arbeiten ist von der Natur der Sache her unvorhersehbar. Medizinstudierende müssen lernen, der medizinischen Problemen innewohnenden Unsicherheit adäquat zu begegnen. Dies wird bereits didaktisch im problemorientierten Lernen umgesetzt und führt zu besserem Umgang mit Unsicherheit im ärztlichen Alltag [10]. Außerdem gibt es Rahmenwerke, die Techniken des Improvisationstheaters aufgreifen, um Medizinstudierende zu befähigen, mit unbekannten medizinischen Situationen umgehen zu lernen [11]. Diese Techniken der Improvisation könnten ebenfalls geeignet sein, um Lehrenden in unsicheren Zeiten adäquates Lehren zu ermöglichen [12]. Besonders nützlich scheinen sie zum Erlernen von Kommunikationsfähigkeiten und professionellem Verhalten zu sein [13].
Aber auch andere Lehrtechniken helfen beim Improvisieren von geeignetem medizinischem Unterricht in Zeiten eines Lockdowns, allen voran natürlich das E-Learning [14], weil dabei das Abstandhalten besonders einfach ist. Auch in der vorliegenden Ausgabe finden sich einige interessante Ansätze in wissenschaftlichen Arbeiten und Projekten, die in der aktuellen Situation zum kreativen Weiterdenken für medizinisches Unterrichten und Prüfen anregen, obwohl zu Zeiten ihrer Entstehung von SARS-CoV-2 noch gar keine Rede war. Rauch et al. berichten über die Entwicklung eines Instruktionsvideos für Zahnmedizinstudierende zur Untersuchung von Patienten mit Verdacht auf craniomandibuläre Dysfunktion [15]. Vielleicht lässt sich eine Möglichkeit entwickeln, dass Zahnmedizinstudierende zu Zeiten eines Lockdowns angeleitet durch solche Videos die klinischen Untersuchungstechniken praktisch mit Personen innerhalb ihres Haushaltes üben können. Dieses Projekt ließe sich vielleicht außerdem an ein 4-schrittiges, an die sogenannte Peyton-Methode angelehntes Videoformat adaptieren, wie es bereits an der Ludwigs-Maximilians-Universität (LMU) in München verwendet wird [https://www.med.moodle.elearning.lmu.de/mod/book/view.php?id=58629&chapterid=1638, Zugriff 04.05.2020]. Dass die Bewertungen studentischer Prüferinnen und Prüfer in einem formativen OSCE im Fach Allgemeinmedizin hoch mit den Bewertungen der medizinischen Experten korrelieren, konnten Möltner et al. zeigen [16]. Auch aus dieser wissenschaftlichen Erkenntnis lassen sich gegebenenfalls weitere Übungs- und Bewertungsmöglichkeiten für Medizinstudierende als Peers zu praktischen und kommunikativen Fertigkeiten entwickeln. Dass das Motivationsprofil von Medizinstudierenden mit der von ihnen ausgedrückten Empathie assoziiert ist, konnten Findyartini et al. in ihrer Studie darstellen [17]. Dieses Projekt bietet somit ebenfalls interessante Ansatzpunkte zu Lehr- und Lernmöglichkeiten von Empathie. Zimmermann und Kadmon setzten standardisierte Prüflinge, die ein Training für verschiedene Leistungsniveaus erhalten hatten, in OSCE-Stationen ein, die gefilmt wurden und sowohl zur Qualitätssicherung von OSCE-Stationen als auch zur Prüferschulung verwendet werden können [18]. Dieses Konzept lässt sich vermutlich leicht und kontaktarm an anderen Hochschulstandorten zur Prüferschulung einsetzen. Diese Beispiele zeigen, welchen wesentlichen Beitrag Projekte der medizinischen Ausbildungsforschung leisten, damit Lehrende auch in Zeiten, in denen sie improvisieren müssen, auf Evidenz zurückgreifen können. Bleiben wir also dran an improvisierter Lehre – wissenschaftlich fundiert und kreativ.
Interessenkonflikt
Die Autorin erklärt, dass sie keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel hat.
Literatur
[1] Laborde-Balen G, Taveme B, Ndour CT, Luanfack C, Peeters M, Ndove I, Delaporte E. The fourth HIV epidemic. Lancet Infect Dis. 2018;18(4):379-380. DOI: 10.1016/S1473-3099(18)30167-1[2] Holland PV, Alter HJ. Non-A, non-B viral hepatitis. Hum Pathol. 1981;12(12):1114-1122. DOI: 10.1016/s0046-8177(81)80332-2
[3] Pawlotsky JM, Feld JJ, Zeuzem S, Hoofnagle JH. From non-A, non-B hepatitis to hepatitis C cure. J Hepatol. 2015;62(1 Suppl):S87-99. DOI: 10.1016/j.jhep.2015.02.006
[4] Harendza S. "HUS diary" of a German nephrologist during the current EHEC outbreak in Europe. Kidney Int. 2011;80(7):687-689. DOI: 10.1038/ki.2011.238
[5] Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Hamburger Lernzielkatalog. KliniCuM Klinisches Curriculum Medizin. Hamburg: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf; 2003. Zugänglich unter/available from: https://docplayer.org/10869285-studiendekanat-hamburger-lernzielkatalog-klinikum-klinisches-curriculum-medizin.html
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[8] Holdhus K, Høisæter S, Mæland K, Vangsnes V, Engelsen KS, Espeland M, Espaland Å. Improvisation in teaching and education - roots and applications. Cogent Educ. 2016;1(3):1204142. DOI: 10.1080/2331186X.2016.1204142
[9] de Carvalho Filho MA, Ledubino A, Frutuoso L, da Silva Wanderlei J, Jaarsma D, Helmich E, Strazzacappa M. Medical Education Empowered by Theater (MEET). Acad Med. 2020. DOI: 10.1097/ACM.0000000000003271
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[17] Findyartini A, Felaza E, Setyorini D, Mustika R. Relationship between empathy and motivation in undergraduate medical students. GMS J Med Educ. 2020;37(4):Doc43. DOI: 10.3205/zma001336
[18] Zimmermann P, Kadmon M. Standardized Examinees: Development of a new tool to evaluate factors influencing OSCE scores and to train examiners. GMS J Med Educ. 2020;37(4):Doc40. DOI: 10.3205/zma001333