[Asynchrone, digitale Lehre in Zeiten von COVID-19: ein Lehrbeispiel aus der Allgemeinmedizin]
Piet van der Keylen 1Nikoletta Lippert 1
Raphael Kunisch 1
Thomas Kühlein 1
Marco Roos 1
1 Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Allgemeinmedizinisches Institut, Erlangen, Deutschland
Zusammenfassung
Hintergrund: Die SARS-CoV-2-Pandemie wirkte sich stark auf den akademischen Lehrbetrieb aus und könnte diesen nachhaltig verändern. Ad hoc musste eine Digitalisierung des Lehrbetriebs durchgeführt werden.
Allgemeinmedizinische Lehrsituation: Die allgemeinmedizinische Lehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg bietet neben der Hauptvorlesung diverse Wahlfächer, Famulaturen, Blockpraktika sowie das Wahltertial im praktischen Jahr an. Die Hauptvorlesung und ein klinisches Wahlfach wurden im Sommersemester 2020 digital angeboten.
Digitale Methoden: Die Hauptvorlesung bediente sich eines adaptierten inverted-classroom Konzepts. Podcasts und audio-kommentierte Videos wurden bereitgestellt. Lehrmaterialen wurden per Videokonferenz, sowie in einem Forum reflektiert. Für das Wahlfach „Kluge Entscheidungen im klinischen Alltag“ wurde ein asynchrones Lernmodul entwickelt. Jeder Themenblock bestand aus einer Kursvorbereitung, Podcasts und Nachbereitungen sowie einem betreuten Forum.
Ergebnisse: Die Hauptvorlesung (Rücklaufquote N=115/170; 67,6 %) wurde durchschnittlich mit „sehr gut“ bewertet. Ebenso die kommentierten Videos. Das Forum, die Videosprechstunde und Lehrmaterialien bekamen durchschnittlich die Note „gut“. Die überwiegend gewünschten Präsenzformen waren „Schwerpunkt digital mit vertiefenden Präsenzphasen“ (N=54) und „Schwerpunkt Präsenz, nur digital unterstützend“ (N=37).
Diskussion und Implikationen: Die Studierenden können durch die digitale Umstrukturierung eigenverantwortlich Lerninhalte erarbeiten. Dafür sind Selbstregluationsstrategien vonnöten, welche mittels Portfolioarbeit zukünftig vermittelt werden sollen. Der Lehrfokus verschiebt sich von einem passiven Lehrformat hin zu einem interaktiven. Erste Evaluationsergebnisse verdeutlichten eine sehr gute Akzeptanz seitens der Studierenden.
Schlüsselwörter
digitale Lehre, COVID-19, Allgemeinmedizin, inverted-classroom, blended-learning
1. Hintergrund
In Bayern wurden in Folge der SARS-CoV-2-Pandemie Maßnahmen initiiert, die den akademischen Lehrbetrieb nachhaltig verändern könnten [1]. Die Herausforderung lag in der kurzfristigen Transformation etablierter Lehrveranstaltungen in ein digitales Format. Obgleich der Masterplan 2020 unabhängig der gegenwärtigen Situation [2] auf die Dringlichkeit der Digitalisierung medizinischer Lehre hinweist, hat erst die SARS-CoV-2-Pandemie den nötigen Druck erzeugt, eigene Lehre einerseits digital zu gestalten, andererseits aber die Wissensvermittlung darin auch für die Teilnehmenden kreativ und proaktiv umzusetzen. Das vorliegende Beispiel soll aufzeigen, wie allgemeinmedizinische Lehre im klinischen Abschnitt des Studiums digital und asynchron funktionieren kann und so didaktisch über die klassische frontale Präsenzveranstaltung hinausgeht. Durch die „Reflektive Videosprechstunde“ und ein „Onlineforum“ können interaktive Lernaktivitäten nach dem „ICAP-Framework“ unterstützt werden [3]. Diese ermöglichen Autonomie- und Kompetenzerleben oder soziale Eingebundenheit, die laut Selbstbestimmungstheorie positiven Einfluss auf Lernmotivation und Leistung nehmen [4].
2. Allgemeinmedizinische Lehrsituation
Die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg verankert die Allgemeinmedizin im 1. klinischen Semester als Vorlesung mit zwei Semesterwochenstunden (SWS). Das Blockpraktikum ist vom 5.-10. Fachsemester abzuleisten. Es werden (vor-)klinische Wahlfächer angeboten. Das Wahltertial kann im Praktischen Jahr (PJ) absolviert werden (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Im Sommersemester 2020 wurden die „Vorlesung Allgemeinmedizin“ und das klinische Wahlfach „Kluge Entscheidungen im klinischen Alltag“ digital angeboten. Weitere Wahlfächer konnten aufgrund des stark anwendungsbasierten Interaktionsrahmens (z.B. Kleingruppen, Rollenspiel) nicht digital angeboten werden oder fanden – nach Aussetzung – wieder analog statt (Famulatur, Blockpraktikum, PJ).
Abbildung 1: Darstellung der Allgemeinmedizinischen Lehrveranstaltungen an der FAU Erlangen-Nürnberg zum Sommersemester 2020. Farblich hervorgehoben (orange) sind die Lehrveranstaltungen, die im Rahmen des digitalen Semesters auf ein rein digitales Lehrformat umgestellt wurden.
3. Digitale Methoden
3.1. Vorlesung Allgemeinmedizin
Die Vorlesung wurde in ein rein digitales Lehrformat transformiert. Die 90-minütigen Vorlesungen wurden als Video-Podcasts angeboten. Jede Vorlesung wurde in kleinere Themenblöcke („Segmenting Principle“) unterteilt und mittels audio-kommentierter Präsentation als Videos über eine ILIAS Lernplattform [https://www.studon.fau.de/] zur Verfügung gestellt [5]. Es wurden vertiefende Aufträge für das Selbststudium und weiterführende Materialien angeboten, um der möglichen Passivität durch reduzierte Interaktion zu begegnen. Die Inhalte wurden je eine Woche vor dem eigentlichen „Präsenztermin“ verfügbar gemacht. An diesem fand eine reflektierende Videosprechstunde mit Praxisbeispielen über WebEx (Cisco Systems, [https://www.webex.com/]) statt. Ein durch die Dozierenden betreutes Forum der Lernplattform ermunterte zusätzlich zur Interaktion. So entstand eine Variante eines inverted-classroom Konzepts mit der Möglichkeit des reflexiven Lernens in einer asynchronen Umgebung und individuellem Tempo [6]. Um digitales Lernen zu forcieren, wurden die Formate in Gemeinsprache gehalten, die Videosprechstunde durch zwei Dozierende dialogisch untereinander und mit den Studierenden geführt, gemäß Mayers „Personalization Principle“ [7]. Nach Abschluss der Vorlesung erfolgte eine Evaluation über die Lernplattform. Diese enthielt selbstentwickelte Items zur Bewertung didaktischer Methoden, Zufriedenheit sowie die künftig gewünschte Präsenzform. Das Antwortformat folgte dem Schulnotenprinzip. Auch eine Freitextantwort (offene Wünsche/Kritik) war möglich.
3.2. Wahlfach „Kluge Entscheidungen im klinischen Alltag“
Das klinische Wahlfach wurde ursprünglich als hybride Veranstaltung (Präsenz-digital, 2 SWS) etabliert. Im Sommersemester 2020 wurde es als online-Lernmodul (ILIAS, [https://www.studon.fau.de/]) weiterentwickelt und mit der Vorlesung thematisch und didaktisch verzahnt. Zu jedem Themenblock gab es eine aktivierende Vorbereitung, ergänzt durch Podcast-Beiträge der Dozierenden. Eine Kursnachbereitung vertiefte im Eigenstudium Inhalte mittels Übungen oder Kontrollfragen und informierte so über den Lernfortschritt. Ein von Dozierenden und studentischen Tutor*innen betreutes Forum ermöglichte asynchrone Interaktion.
4. Ergebnisse
Evaluationsergebnisse – Bewertung nach deutschen Schulnoten – der Vorlesung (Rücklaufquote N=115/170; 67,6%, siehe Abbildung 2 [Abb. 2]) zeigten eine hohe Akzeptanz mit einer durchschnittlichen Bewertung „sehr gut“. Ebenso die kommentierten Videos. Forum, Videosprechstunde und Lehrmaterialien erhielten durchschnittlich die Note „gut“. Die vorrangig gewünschten Lehrformate waren „Schwerpunkt digital mit vertiefenden Präsenzphasen“ (N=54) und „Schwerpunkt Präsenz, nur digital unterstützend“ (N=37). In den Freitextantworten wurde die „sehr gute Organisation“ und „didaktische Methode“ im Vergleich zu anderen klinischen Fächern hervorgehoben. Die Evaluation des Wahlfaches ist noch nicht abgeschlossen und wird an anderer Stelle publiziert.
Abbildung 2: A=Allgemeine Bewertung der Vorlesung Allgemeinmedizin im Sommersemester 2020; z.B. „Wie bewerten Sie [insgesamt] die digitale Vorlesungsreihe Allgemeinmedizin“; deutsches Schulnotenprinzip (N=115). B=Bewertung der eingesetzten digitalen Elemente; „Für wie geeignet halten Sie die eingesetzten Elemente zur Unterstützung Ihres Selbststudiums?“; deutsches Schulnotenprinzip (N=115). C=Von den Studierenden gewünschte Präsenzform; Auswahlfrage nach gewünschter Präsenzform (N=115). *Grafiken und Werte wurden mittels GraphPad Prism (V.8.3.0) [https://www.graphpad.com/guides/prism/7/user-guide/citing_graphpad_prism.htm] berechnet und erstellt.
5. Diskussion und Implikationen
- Asynchrone Lehre ermöglicht den Studierenden eigenverantwortlich, zeit- und ortsunabhängig im individuellen Lerntempo arbeiten. Eine persönliche Anbindung muss dennoch jederzeit möglich sein. Neben Inhalt und Methode schätzen Studierende verlässliche Struktur, Organisation und Betreuung im virtuellen Umfeld.
- Studierende benötigen Selbstregulationsstrategien, damit Online-Kurse nicht mit mehr Langeweile und weniger Freude als in Präsenz einhergehen [8]. Selbstregulation kann z.B. über Portfolioarbeit gefördert werden [9].
- Asynchrone, digitale blended-learning/inverted-classroom Konzepte können die klinische Lehre stärken (z. B. Blockpraktikum Allgemeinmedizin) [10], [11]. Der Fokus verschiebt sich von passiver Inhaltsvermittlung zum interaktiven Umgang mit Inhalten.
- Beurteilungsunterschiede zwischen Videos und Forum resultieren möglicherweise aus einem unterschiedlichen Aktivitätslevel (passiv vs. interaktiv) [3].
- Eine Weiterentwicklung der Evaluation ist geplant.
Förderung
Das beschriebene Wahlfach ist als Kurs zur Einführung in die evidenz-basierte Medizin als Weiterbildung (DNEbM e.V.) anerkannt und wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung („QuiS II Nr. 01PL17017“) gefördert.
Autorenschaft
PK und NL teilen sich die Erstautorenschaft und waren verantwortlich für die Manuskripterstellung, Erhebung und Auswertung der Daten und Entwicklung der Evaluation. RK und TK revidierten und überarbeiteten das Manuskript. MR entwickelte die Evaluation und war gemeinsam mit PK verantwortlich für die Entwicklung der Lehridee. MR überarbeitete das Manuskript, Datenerhebung und die Datendarstellung.
Die vorliegende Arbeit wurde unter (teilweiser) Erfüllung der Voraussetzungen zur Erlangung des Doktorgrads Dr. rer. biol. hum. für NL erstellt.
Danksagung
Die Autoren danken den studentischen Tutor*innen für die Unterstützung. Die Autoren danken der Medizinische Fakultät der FAU Erlangen-Nürnberg und dem Institut für Lern-Innovation der FAU Erlangen-Nürnberg für die konstruktive Unterstützung.
Interessenkonflikt
Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
Literatur
[1] Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege. Coronavirus - Maßnahmen 2020. München: Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege; 2020. Zugänglich unter/available from: https://www.stmgp.bayern.de/coronavirus/massnahmen/[2] Bundesministerium für Bildung und Forschung. Masterplan Medizinstudium 2020. Berlin: Bundesministerium für Bildung und Forschung; 2017. Zugänglich unter/available from: https://www.bmbf.de/files/2017-03-31_Masterplan%20Beschlusstext.pdf
[3] Chi MT, Wylie R. The ICAP framework: Linking cognitive engagement to active learning outcomes. Educ Psychol. 2014;49(4):219-243. DOI: 10.1080/00461520.2014.965823
[4] Deci EL, Ryan RM. The "What" and "Why" of Goal Pursuits: Human Needs and the Self-Determination of Behavior. Psychol Inq. 200011(4):227-268. DOI: 10.1207/S15327965PLI1104_01
[5] Clark R, Mayer R. Applying the segmenting and pretraining principles: managing complexity by breaking a lesson into parts. E-Learning and the Science of Instruction: Proven Guidelines for Consumers and Designers of Multimedia. Hoboken, NJ: Wiley Online Library; 2010. p.207-218.
[6] Tolks D, Schäfer C, Raupach T, Kruse L, Sarikas A, Gerhardt-Szép S, Klauer G, Lemos M, Fischer MR, Eichner B, Sostmann K, Hege I. An introduction to the inverted/flipped classroom model in education and advanced training in medicine and in the healthcare professions. GMS J Med Educ. 2016;33(3):Doc46. DOI: 10.3205/zma001045
[7] Mayer RE. Principles of multimedia learning based on social cues: Personalization, voice, and image principles. In: Mayer RE, editor. The Cambridge handbook of multimedia learning. Cambridge: Cambridge University Press: 2005. p.201-212. DOI: 10.1017/CBO9780511816819.014
[8] Stephan M, Markus S, Gläser-Zikuda M. Students' Achievement Emotions and Online Learning in Teacher Education. Front Educ. 2019;4:109. DOI: 10.3389/feduc.2019.00109
[9] Gläser-Zikuda M, Fendler J, Noack J, Ziegelbauer S. Fostering self-regulated learning with portfolios in schools and higher education. Orbis scholae. 2011;5(2):67-78. DOI: 10.14712/23363177.2018.101
[10] Engel B, Esser M, Bleckwenn M. Piloting a blended-learning concept for integrating evidence-based medicine into the general practice clerkship. GMS J Med Educ. 2019;36(6):Doc71. DOI: 10.3205/zma001279
[11] Northey G, Bucic T, Chylinski M, Govind R. Increasing student engagement using asynchronous learning. J Market Educ. 2015;37(3):171-180