[Isn’t here just there without a „t“ – inwiefern können digitale Clinical Case Discussions den Ausfall von Präsenzlehre kompensieren?]
Jan M. Zottmann 1Anna Horrer 1
Amir Chouchane 2
Johanna Huber 1
Sonja Heuser 1
Lica Iwaki 1
Christian Kowalski 3
Martin Gartmeier 2
Pascal O. Berberat 2
Martin R. Fischer 1
Marc Weidenbusch 1,4
1 LMU Klinikum, Institut für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin, München, Deutschland
2 Technische Universität München, Fakultät für Medizin, Klinikum rechts der Isar, TUM Medical Education Center, München
3 LMU Klinikum, Klinik für Anaesthesiologie, München, Deutschland
4 LMU Klinikum, Medizinische Klinik und Poliklinik IV, München, Deutschland
Zusammenfassung
Zielsetzung: COVID-19 stellt Curriculums-Verantwortliche weltweit vor die Herausforderung, digitale Ersatzangebote für Präsenzlehre zu schaffen. Fallbasierte Formate unter Supervision bieten sich als Ersatz für klinisch-praktischen Unterricht am Krankenbett an, bei dem die Vermittlung klinischer Entscheidungsfindungskompetenzen im Vordergrund steht.
Methodik: Für Medizinstudierende der LMU und der TU München wurde das interaktive, fallbasierte und supervidierte Lehrformat der Clinical Case Discussion (CCD) digitalisiert und als dCCD in die jeweiligen Curricula implementiert. Die Falldiskussionen wurden als Videokonferenz realisiert, von einem studentischen Moderator angeleitet und fanden unter Supervision eines Klinikers auf Facharztniveau statt. Um eine passive Teilnahme zu unterbinden, wurden kognitive Aktivierungen implementiert. Mit Hilfe eines speziellen Evaluationskonzeptes wurden Akzeptanz, Usability und subjektiver Lernerfolg bei der dCCD erfasst.
Ergebnisse: Hinsichtlich der Akzeptanz waren die Studierenden der Meinung, durch die Teilnahme an den dCCDs effektiv gelernt zu haben (M=4.31; SD=1.37). Eine Mehrheit gab außerdem an, den Kurs weiterempfehlen zu wollen (M=4.23; SD=1.62). Die technische Umsetzung des Lehrformats wurde insgesamt positiv beurteilt, für die Usability ergab sich ein heterogenes Bild. Studierende schätzten ihre klinischen Entscheidungsfindungskompetenzen am Ende der dCCDs (M=4.43; SD=0.66) bei geringer Effektstärke signifikant höher ein als zu Beginn (M=4.33; SD=0.69), t(181)=-2.352, p=.020, d=0.15.
Schlussfolgerung: Unsere Evaluationsdaten zeigen, dass die dCCD von den Studierenden als Ersatz für Präsenzlehre gut angenommen wird. In einem nächsten Schritt soll überprüft werden, inwiefern die Teilnahme an dCCDs analog zu einer CCD-Präsenzveranstaltung zu einem Zuwachs an objektiv gemessenen klinischen Entscheidungsfindungskompetenzen führt.
Schlüsselwörter
Fallbasiertes Lernen, Clinical Reasoning, Peer-Teaching, Curriculumsentwicklung, Medizinstudium, Digitalisierung
1. Digitale Falldiskussionen als Ersatz für Präsenzlehre?
COVID-19 stellt Curriculums-Verantwortliche weltweit vor die Herausforderung, digitale Ersatzangebote für Präsenzveranstaltungen zu schaffen, um weiterhin universitäre Lehre zu ermöglichen. Der für das Medizinstudium zentrale klinisch-praktische Unterricht am Krankenbett (UaK) ist ein besonderes Problem, da für Krankenhäuser pandemiebedingt strenge Zugangsbeschränkungen galten und immer noch gelten [1]. Deshalb geht es aktuell auch darum, digitale Ersatzangebote für UaK anzubieten. Neben Anamnese- und körperlicher Untersuchungstechnik werden im UaK vor allem klinische Entscheidungsfindungskompetenzen (Clinical Reasoning; CR) vermittelt. Vor diesem Hintergrund bieten sich dafür fallbasierte Ersatzformate unter Supervision an [2], [3].
2. Clinical Case Discussions fördern Clinical Reasoning
Für Medizinstudierende der LMU und der TU München wurde das Lehrformat der Clinical Case Discussions (CCDs) digitalisiert und in die jeweiligen Curricula implementiert. Die CCD ist ein interaktives, fallbasiertes und supervidiertes Lehrformat zur Vermittlung von CR-Kompetenzen [3], dessen Interaktivität durch einen hochschuldidaktisch geschulten studentischen Moderator gefördert wird, der den anderen Studierenden Fragen stellt und so eine aktive Diskussionsteilnahme anregt. Der supervidierende Kliniker beschränkt sich auf ausgewählte zentrale Lernaspekte und die Korrektur grober Fehler im CR-Prozess der Gruppe. Die Diskussion der Fälle aus dem New England Journal of Medicine [https://www.nejm.org/medical-articles/case-records-of-the-massachusetts-general-hospital] findet in englischer Sprache und nach einer festen Struktur statt (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).
Abbildung 1: Struktur der Falldiskussion in der CCD
Positive Effekte von CCDs auf studentische CR-Kompetenzen konnten sowohl für die aktive Teilnahme an der Präsenzveranstaltung, als auch für das selbstgesteuerte Lernen mit aufgezeichneten Falldiskussionen gezeigt werden [4]. Eine digitale Variante der CCD, bei der die Studierenden aktiv an einer Videokonferenz teilnehmen, erschien daher vielversprechend für die Vermittlung von CR-Kompetenzen.
3. Digitalisierung und curriculare Implementierung der CCD
Die Digitalisierung der CCD wurde von den Lehrverantwortlichen in enger Zusammenarbeit mit den studentischen Moderatoren und mit Unterstützung der Studiendekane von LMU und TUM vorgenommen. Während die dCCD an der TUM als Wahlpflichtfach angeboten wurde, wurde sie an der LMU curricular im klinischen Basisjahr (6./7. Semester) angesiedelt, in dem ein Großteil des UaK stattfindet. Alternativ wurden als Ersatzveranstaltungen die Bearbeitung virtueller Patienten im CASUS-Lernsystem [https://lmu.casus.net/] und sogenannte „Corona-Einsätze“ in der Patientenversorgung [5] angeboten. Insgesamt meldeten sich rund 60% der berechtigten Studierenden der LMU für eine Teilnahme an den dCCDs an. Für die technische Umsetzung wurde an beiden Münchener Universitäten die Web-Conferencing Software Zoom [https://zoom.us/] genutzt.
Die Struktur der CCD blieb in der digitalen Variante im Wesentlichen unverändert. Allerdings wurden kognitive Aktivierungen implementiert, um eine passive Teilnahme („Lurking“) einzelner Teilnehmender zu unterbinden [6]: Konkret waren die Studierenden während Schritt 1 der dCCD angehalten, sich Notizen zur Fallpräsentation zu machen. Nach einer kurzen Denkpause schickten alle Studierenden individuell einen Assessment-Entwurf an den Moderator, der in Schritt 2 gemeinsam diskutiert wurde. Die Studierenden erarbeiteten zudem dyadisch oder triadisch in sogenannten „Breakout-Räumen“ (eine Funktion in Zoom, bei der die Konferenz in separate Sitzungen aufgeteilt werden kann) die Differentialdiagnose und posteten diese im Chat, was wiederum als Grundlage für Schritt 4 diente.
Auf Basis vorhandener Instrumente [3], [7] wurde ein spezielles CCD-Evaluationskonzept entwickelt, das Bögen zur formativen und summativen Evaluation umfasst sowie einen Bogen, der gezielt bei der Neuimplementierung des Lehrformats eingesetzt werden kann. Für die dCCD wurden Items zur Akzeptanz bzw. Usability des digitalen Formats ergänzt (siehe Anhang 1 [Anh. 1] und Anhang 2 [Anh. 2]). Der subjektive Lernerfolg der Studierenden wurde vor und nach dem Kurs mit einer etablierten Skala zur Selbsteinschätzung der CR-Kompetenz [8] erfasst. Die Auswertung erfolgte mittels t-Test für verbundene Stichproben, ein Signifikanzniveau von 5% wurde festgelegt.
4. Akzeptanz, Usability und subjektiver Lernerfolg bei digitalen CCDs
Da für die Evaluation verschiedene Bögen zum Einsatz kamen, variiert die Anzahl der zu den einzelnen Aspekten verfügbaren Antworten. In der abschließenden Kursevaluation (n=49) zeigte sich eine hohe Akzeptanz für das Lehrformat. Die Studierenden waren der Meinung, durch die Teilnahme effektiv gelernt zu haben (M=4.31; SD=1.37). Eine Mehrheit gab an, den Kurs weiterempfehlen zu wollen (M=4.23; SD=1.62).
Die Technik (Ton, Video, Präsentation) hat bei den dCCDs nach Ansicht von 85% der Teilnehmenden (n=206) zuverlässig funktioniert; wurden technische Störungen erwähnt, waren dies meist Verbindungsprobleme. Bezüglich der übrigen Usability-Items waren die Studierenden geteilter Meinung (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]), was mit allgemein heterogenen Präferenzen Medizinstudierender bezüglich der Nutzung digitaler Lernmedien zusammenhängen dürfte [9], [10] (siehe Anhang 2 [Anh. 2] für eine detailliertere Darstellung).
Tabelle 1: Evaluationsergebnisse zur Usability der dCCD
Bezüglich des subjektiven Lernerfolgs schätzten die Teilnehmenden (n=182) ihre CR-Kompetenzen auf einer sechsstufigen Likert-Skala am Ende des Kurses (M=4.43; SD=0.66) signifikant höher ein als zu Beginn (M=4.33; SD=0.69), t(181)=-2.352, p=.020, d=0.15. Auffällig sind in Anbetracht des Ausbildungsstandes die bereits zu Beginn hohen Selbsteinschätzungswerte der Studierenden, die eine Selbstüberschätzung vermuten lassen [11].
5. Schlussfolgerung
Unsere Evaluationsdaten zeigen, dass die dCCD von den Medizinstudierenden insgesamt gut angenommen wird. Der subjektive Lernzuwachs war signifikant, fiel im Vergleich zu einer früheren Untersuchung der CCD-Präsenzveranstaltung [3] jedoch gering aus. Einen Neuheitseffekt können wir nicht völlig ausschließen – andererseits treten im Zusammenhang mit digitaler Lehre auch Phänomene wie „Zoom-Fatigue“ auf [12], die die studentische Selbsteinschätzung negativ beeinflusst haben könnten. Mit Hilfe einer Studie, die im Sommersemester 2020 begleitend an der LMU durchgeführt wurde, soll in einem nächsten Schritt überprüft werden, inwiefern die Teilnahme an dCCDs analog zu einer CCD-Präsenzveranstaltung zu einem Zuwachs an objektiv gemessenen CR-Kompetenzen führt. Darüber hinaus wäre ein Vergleich mit anderen digitalen Lehrangeboten interessant, die während der Pandemie realisiert wurden, um klinische Entscheidungsfindungskompetenzen zu vermitteln.
Förderung
Diese Arbeit wurde unterstützt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (Förderkennzeichen 01PB18004C) sowie vom Elitenetzwerk Bayern (Förderkennzeichen K-GS-2012-209).
Danksagung
Unser Dank gilt den studentischen Moderatoren der dCCDs an der LMU und der TU München (Julian Albers, Julia Fleig, Christine Heisen, Christopher Hemingway, Lucia Hoenen, Tilman Höing, Hugo Lanz, Charlotte Middendorf, Ekaterina Nedeoglo, Sophie Ostmeier, Aydana Rakhimbayeva, Christian Rausch, Martin Ryll, Sebastian Waldherr, Rachel Weiss, Chiara Wychera, Vladislav Yakimov), allen Dozierenden, sowie dem Team von MeCuM Modul 23 an der LMU (Martin Dreyling, Hanna Khvorost, Mara Maticevic, Monika Merkle).
Interessenkonflikt
Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
Literatur
[1] Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege. Vollzug des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), Corona-Pandemie: Einschränkung der Besuchsrechte für Krankenhäuser, Pflege- und Behinderteneinrichtungen. München: Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege; 2020. Zugänglich unter/available from: https://www.verkuendung-bayern.de/baymbl/2020-141/[2] Kassirer JP. Teaching clinical reasoning: case-based and coached. Acad Med. 2010;85(7):1118-1124. DOI: 10.1097/ACM.0b013e3181d5dd0d
[3] Koenemann N, Lenzer B, Zottmann JM, Fischer MR, Weidenbusch M. Clinical Case Discussions: A novel, supervised peer-teaching format to promote clinical reasoning in medical students. GMS J Med Educ. 2020;37(5):48. DOI: 10.3205/zma001341
[4] Weidenbusch M, Lenzer B, Sailer M, Strobel C, Kunisch R, Kiesewetter J, Fischer MR, Zottmann JM. Can clinical case discussions foster clinical reasoning skills in undergraduate medical education? A randomised controlled trial. BMJ Open. 2019;9(9):e025973. DOI: 10.1136/bmjopen-2018-025973
[5] Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst. Corona-Vorsorge: Wissenschaftsminister Sibler ruft gemeinsam mit Universitätskliniken Medizinstudenten zum freiwilligen Einsatz auf. München: Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst; 2020. Zugänglich unter/available from: https://www.stmwk.bayern.de/pressemitteilung/11877/corona-vorsorge-wissenschaftsminister-sibler-ruft-gemeinsam-mit-universitaetskliniken-medizinstudenten-zum-freiwilligen-einsatz-auf.html
[6] Strijbos JW, De Laat MF. Developing the role concept for computer-supported collaborative learning: An explorative synthesis. Comp Human Behav. 2010;26(4):495-505. DOI: 10.1016/j.chb.2009.08.014
[7] Tolks D, Kiessling C, Wershofen B, Pudritz Y, Schunk M, Härtl A, Fischer MR, Huber J. Lernen aus Fehlern anhand eines fallbasierten Curriculums im medizinischen Querschnittsbereich Gesundheitssysteme/Gesundheitsökonomie und öffentliche Gesundheitspflege. Gesundheitswes. 2019. DOI: 10.1055/a-0894-4583
[8] van Gessel E, Nendaz MR, Vermeulen B, Junod A, Vu NV. Development of clinical reasoning from the basic sciences to the clerkships: a longitudinal assessment of medical students' needs and self-perception after a transitional learning unit. Med Educ. 2003;37(11):966-974.
[9] Persike M, Friedrich JD. Lernen mit digitalen Medien aus Studierendenperspektive. Arbeitspapier Nr. 17. Berlin: Hochschulforum Digitalisierung; 2016.
[10] Wong G, Greenhalgh T, Pawson R. Internet-based medical education: A realist review of what works, for whom and in what circumstances. BMC Med Educ. 2010;10:12. DOI: 10.1186/1472-6920-10-12
[11] Stark R, Gruber H, Renkl A, Mandl H. Instructional effects in complex learning: Do objective and subjective learning outcomes converge? Learn Instruct. 1998;8(2):117-129. DOI: 10.1016/S0959-4752(97)00005-4
[12] Wiederhold BK. Connecting through technology during the Coronavirus disease 2019 pandemic: Avoiding "Zoom Fatigue". Cyberpsychol, Behav Soc Network. 2020;23(7):437-438. DOI: 10.1089/cyber.2020.29188.bkw
Anhänge
Anhang 1 | CCD-Evaluationskonzept (Anhang_1.pdf, application/pdf, 197.33 KBytes) |
Anhang 2 | Usability der dCCD (Anhang_2.pdf, application/pdf, 211.53 KBytes) |