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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

2366-5017_N


Dies ist die deutsche Version des Artikels. Die englische Version finden Sie hier.
Kurzbeitrag
Soziologie

[Praktikum der Medizinischen Soziologie „Quartiersbezogene Sozialraumanalyse“. Ein Feldversuch während der COVID-19-Pandemie]

 Enno Swart 1
Annemarie Feißel 1
Aiad Hasoon 1
Madlen Hörold 1
Heike Hupach 1
Uwe Matterne 1
Katharina Piontek 1
Matthes Schaefer 1
Christoph Stallmann 1
Marco Strecker 1
Christian Apfelbacher 1

1 Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Medizinische Fakultät, Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Magdeburg, Deutschland

Zusammenfassung

Hintergrund: Im Sommersemester 2020 wurde an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg für Studierende der Humanmedizin im ersten Studienjahr im Fach Medizinische Soziologie mit einer quartierbezogenen Sozialraumanalyse ein neues Format eingeführt.

Didaktischer Ansatz: Aufgrund der COVID-19-Pandemie musste das didaktische Konzept kurzfristig von einer seminargruppenbezogenen Feldarbeit in verschiedenen Magdeburger Stadtteilen auf eine individuelle Arbeit am Studien- oder Heimatort umgestellt werden, ergänzt um begleitende online-Angebote. Die Studierenden sollten mittels Interviews mit Einwohner*innen ihres unmittelbaren Wohnumfelds, einer Quartierbegehung mit Anfertigung von Fotoaufnahmen sowie einer Analyse von amtlichen Sekundärdaten eine Charakterisierung ihres Quartiers mit Blick auf Lebensqualität, Gesundheit und Krankheit sowie medizinische Versorgung vornehmen. Dabei sollten erste eigene Erfahrungen im wissenschaftlichen Arbeiten gesammelt werden (Datengewinnung, Ergebnisdarstellung und Interpretation sowie Berichterstattung). Es wird über die Evaluation dieses neuen Lehrangebots und daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zu dessen Weiterentwicklung berichtet.

Evaluation: 51 Prozent der Studierenden nahmen an einer Evaluation der Lehrveranstaltung teil. Die deutliche Mehrheit bewertet das Praktikum mit „gut“ oder „sehr gut“. Als Verbesserungsvorschlag wird mehrfach der Wunsch nach einer optional ergänzenden individuellen Beratung und einer besseren formalen Vorbereitung auf die Leistungsnachweise geäußert. Zwei Drittel der Befragten erachten das online-Lehrformat auch in Nach-Pandemie-Zeiten für sinnvoll.


Schlüsselwörter

Medizinische Soziologie, Sozialepidemiologie, Quartier, Sozialraumanalyse

Hintergrund

Theorien, Modelle und Empirie zum Zusammenhang zwischen dem sozialen Status Einzelner und ihrer Gesundheit [1], [2], [3], [4] sind integraler Bestandteil der vorklinischen Lehre in Medizinischer Soziologie an der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (OvGU), verantwortet durch das Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung (ISMG). Zu dessen Schwerpunkten gehört weiterhin die Vermittlung qualitativer und quantitativer Methoden der Sozialwissenschaft und Epidemiologie. Im folgenden Kurzbericht wird die Verbindung beider Themenkomplexe in einem Praktikum der Medizinischen Soziologie unter den konkreten Rahmenbedingungen der COVID-19-Pandemie beschrieben.

Didaktischer Ansatz

Der Einfluss soziodemographischer und sozioökonomischer Faktoren auf Gesundheit, Gesundheitsverhalten sowie Krankheitsentstehung und -verlauf wird in Lehrveranstaltungen der medizinischen Soziologie thematisiert (erstes Studienjahr), ergänzt um Diskussionen von Konzepten und Projekten der Gesundheitsförderung und Prävention [5], [6]. Der Settingansatz [7] wurde bislang nicht heruntergebrochen auf die Ebene des unmittelbaren Lebensumfelds („Quartier“), in dem sich Alltagsaktivitäten abspielen (Wohnen, Einkaufen, Arztbesuche, Freizeit usw.), und die Frage, ob und ggf. wie das Quartier als eigenständige Determinante auf Lebensqualität, Zufriedenheit und Gesundheit der Einwohner*innen wirkt [8], [9], [10]. Dieses Thema wurde im Sommersemester 2020 als Gegenstand in ein Praktikum der Medizinischen Soziologie aufgenommen, verknüpft mit zuvor theoretisch vermittelten methodischen Techniken.

Das ursprüngliche Lehrkonzept sah für zehn Seminargruppen in verschiedenen Stadtteilen Magdeburgs arbeitsteilig eine Feldphase vor. Diese sollte eine Begehung, Fragebogenerhebung und Interviews mit Einwohner*innen sowie mit Beschäftigten des Gesundheits- und Sozialwesens (Ärzt*innen, Apotheker*innen, etc.) umfassen sowie eine Ergebnisdarstellung in Form eines Berichts und eines Posters. In diesem Praktikum sollte ergänzend zu bekannten Modellen des Einflusses des Sozialstatus auf die Gesundheit Einzelner auf einer übergeordneten Ebene das Wohnviertel als mögliche weitere Determinante der Gesundheit seiner Bewohner*innen betrachtet werden. Weiterhin sollten grundlegende Techniken wissenschaftlichen Arbeitens (Recherche, Studienplanung, Analyse, Berichterstattung) erstmalig im Verlauf des Studiums eingeübt werden.

Angesichts der COVID-19-Pandemie musste dieses Konzept kurzfristig umgestellt werden. Die Studierenden waren nunmehr angehalten, eine individuelle Studienarbeit zu erstellen und an ihrem Studienort Magdeburg oder an ihrem Heimatort drei Teilaufgaben abzuleisten:

  1. Beschreibung des Quartiers anhand zugänglicher Sekundärdaten [11],
  2. individuelle Begehung des Quartiers mit der Anfertigung von Foto- und Filmmaterial [12],
  3. Durchführung mindestens eines Interviews (persönlich/telefonisch) in ihrem unmittelbaren persönlichen Umfeld (z.B. Haushaltsmitbewohner*in, Nachbar*in).

Ihre Erfahrungen sollten die Studierenden in einem zusammenfassenden Bericht (ca. 8.000 bis 10.000 Zeichen) sowie einem Abstract niederlegen, incl. eines individuellen Fazits zu neu gewonnenen inhaltlichen und methodischen Erkenntnissen. Vor der Feldphase wurden online eine einführende Plenarveranstaltung sowie zwei online-Termine (zoom-Konferenz) mit dem/der jeweiligen Dozenten/Dozentin durchgeführt.

Die ursprünglichen Lernziele wurden dabei weiter auf die Möglichkeiten einer reinen online-Veranstaltung zugeschnitten:

  • Vertiefung grundlegender Begriffe der Sozialepidemiologie
  • Recherche, Aufbereitung und Interpretation von Sekundärdaten (hier: Daten der amtlichen Statistik)
  • Einübung und Bewertung qualitativer Forschungsmethoden
  • Erkennen des Zusammenhangs zwischen sozialer Lage, Wohnumfeld und Gesundheit
  • Sammlung erster Erfahrungen bei Planung und Umsetzung wissenschaftlicher Arbeiten
  • Einübung wissenschaftlicher Berichterstattung (Abstract, Bericht)

Erfahrungen bei der Umsetzung

Das Praktikum ließ sich nach kurzfristiger Umstellung des didaktischen Konzepts im vorgesehenen Rahmen durchführen. Die Mehrheit der Studierenden (60%) führte die Sozialraumanalyse an ihrem Heimatort durch. Die individuellen Berichte entsprachen weitgehend den inhaltlichen und formalen Anforderungen. Die Studierenden erhielten eine zusammenfassende generische Rückmeldung zu ihren Berichten, bei denen auf häufig auftretende inhaltliche, methodische und formale Mängel eingegangen wurde (z.B. fehlende Binnengliederung, zu knappe Beschreibung der Methoden, mangelhafte Zitierung und Referenzierung); die angebotene vielfach gewünschte individuelle Rückmeldung wurde nur vereinzelt in Anspruch genommen.

Evaluation

96 von 188 Studierenden (51%) nahmen an der online-Evaluation des Praktikums teil. Das Praktikum wurde von den Teilnehmer*innen überwiegend als positiv bewertet; mehr als die Hälfte gaben die Note „1“ oder „2“. Die Mehrheit fühlte sich durch die einführenden online-Veranstaltungen sowie die bereitgestellten Materialien ausreichend auf die individuelle Feldphase vorbereitet. Gleichwohl hätte etwa die Hälfte der Teilnehmer*innen eine weitere online-Einführung zu den konkreten Handlungsaufgaben und den Anforderungen an den schriftlichen Bericht als hilfreich empfunden. Die Foto- bzw. Videobegehung des Quartiers und die Kontaktaufnahme zu Gesprächspartnern wurden überwiegend als unproblematisch angesehen. Die Beschaffung amtlicher Daten zur Beschreibung der sozioökonomischen Struktur stellte sich für kleinere Orte als schwierig heraus. Die Erreichbarkeit der Dozent*innen wurde überwiegend als gut bewertet. Von zwei Dritteln der an der Evaluation teilnehmenden Studierenden wird die Durchführung dieses Praktikums als online-Veranstaltung an Stelle einer Präsenz-Veranstaltung bevorzugt. Als Verbesserungen werden die gezieltere Vorbereitung der Feldphase und konkretere Hinweise zur formalen Gestaltung des Berichts vorgeschlagen.

Fazit

Das angesichts der COVID-19-Pandemie kurzfristig geänderte Format der quartiersbezogenen Sozialraumanalyse in einem Magdeburger Stadtteil hin zu einer freien Wahl des „Quartiers“ hat sich aus Sicht der Studierenden überwiegend bewährt. Positiv aufgenommen wurde die Möglichkeit individueller zeitlicher Gestaltung, das Einüben wissenschaftlicher Methoden und der Blick auf den „Stellenwert der Lebenswelt in Bezug auf die Gesundheit“ (Zitat aus der Evaluation). Die von den Studierenden zahlreich geäußerten Hinweise helfen bei der Fortentwicklung des Formats. Dabei bieten sich Online Tools (z.B. confluence, microsoft teams) an, mit deren Hilfe ohne Präsenz die Aufgaben in Studierendengruppen bearbeitet und die Kommunikation zu den Dozenten intensiviert werden kann. Das neue Format eignet sich nach Meinung der Studierenden auch für eine Umsetzung unter längerfristig zu beachtenden COVID-19-Lehrbedingungen. Die Evaluation des Lehrangebots wird verstetigt.

Unabhängig vom konkreten Format ist dieses Praktikum zusammen mit anderen Lehrveranstaltungen des Faches Medizinische Soziologie geeignet, den Studierenden den Einfluss des Wohnumfelds auf Gesundheit zu verdeutlichen [8], [13], [14], [15], [16] und gleichzeitig die Möglichkeit für Erlernen und Einüben grundlegender wissenschaftlicher Arbeitstechniken zu bieten, die im Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM) eine Aufwertung erfahren haben. Eine Vertiefung der erlernten wissenschaftlichen Arbeitstechniken ist in Wahlfächern des ISMG im vorklinischen und klinischen Abschnitt möglich.

Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

[1] Mielck A. Soziale Ungleichheit und Gesundheit: Einführung in die aktuelle Diskussion. Göttingen: Hogrefe; 2005.
[2] Richter M, Hurrelmann K. Gesundheitliche Ungleichheit: Grundlagen, Probleme, Perspektiven. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; 2009. DOI: 10.1007/978-3-531-91643-9
[3] Lampert T, Richter M, Schneider S, Spallek J, Dragano N. Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Stand und Perspektiven der sozialepidemiologischen Forschung in Deutschland. Bundesgesundheitsbl. 2016;59(2):153-165. DOI: 10.1007/s00103-015-2275-6
[4] Lampert T, Kroll LE, Kuntz B, Hoebel J. Gesundheitliche Ungleichheit in Deutschland und im internationalen Vergleich: Zeitliche Entwicklungen und Trends. J Health Monit. 2018;3(S1).
[5] Hurrelmann K. Referenzwerk Prävention und Gesundheitsförderung. Grundlagen, Konzepte und Umsetzungsstrategien. 5. vollständig überarbeitete Aufl. Göttingen: Hogrefe; 2018.
[6] Naidoo J, Wills J. Lehrbuch Gesundheitsförderung. 3. aktualisierte und ergänzte Auflage. Göttingen: Hogrefe; 2019. DOI: 10.1024/85744-000
[7] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung; 2018. Zugänglich unter/available from: https://www.leitbegriffe.bzga.de/
[8] Richter A, Wächter M. Zum Zusammenhang von Nachbarschaft und Gesundheit. Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 36. Köln: Eigenverlag; 2009.
[9] Böhme C, Reimann B. Gesundheitsfördernde Stadtteilentwicklung: mehr Gesundheit im Quartier. In: Böhme C, Kliemke C, Reimann B, Süß W, editors. Handbuch Stadtplanung und Gesundheit. Bern: Hans Huber Verlag; 2012. p.199-209.
[10] Stauder J, Rapp I, Eckhard J. Der Einfluss der Wohnumgebung auf die Gesundheit - eine medizinsoziologische Betrachtung. In: Stauder J, Rapp I, Eckhard J, editors. Soziale Bedingungen privater Lebensführung. Wiesbaden: Springer VS; 2016. p.305-324. DOI: 10.1007/978-3-658-10986-8_13
[11] Süß A, Wolf K. Gesundheitsberichterstattung. In: Böhme C, Kliemke C, Reimann B, Süß W, editors. Handbuch Stadtplanung und Gesundheit. Bern: Hans Huber Verlag; 2012. p.177-186.
[12] Wang CC, Burris, MA. Photovoice: concept, methodology, and use for participatory needs assessment. Health Educ Behav. 1997;24(3):369-387. DOI: 10.1177/109019819702400309
[13] Hornberg C, Pauli A. Soziale Ungleichheit in der umweltbezogenen Gesundheit als Herausforderung für Stadtplanung. In: Böhme C, Kliemke C, Reimann B, Süß W, editors. Handbuch Stadtplanung und Gesundheit. Bern: Hans Huber Verlag; 2012. p.129-138.
[14] Alisch M. Sozialräumliche Segregation: Ursachen und Folgen. In: Huster EU, Boekh J, Mogge-Grotjan H, editors. Handbuch und soziale Ausgrenzung. 3. akt. und erw. Aufl. Wiesbaden: Springer VS; 2018. p.503-522. DOI: 10.1007/978-3-658-19077-4_22
[15] Bär G. Gesundheitsförderung lokal verorten. Räumliche Dimensionen und zeitliche Verläufe des WHO-Setting-Ansatzes im Quartier. Wiesbaden: Springer VS; 2015. DOI: 10.1007/978-3-658-09550-5
[16] Sterdt E, Walter U. Ansätze und Strategien der Prävention und Gesundheitsförderung im Kontext von Stadtplanung. In: Böhme C, Kliemke C, Reimann B, Süß W, editors. Sozialepidemiologische Grundlagen der Gesundheitswissenschaften. Bern: Hans Huber Verlag; 2012. p.27-36.