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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

2366-5017_N


Dies ist die deutsche Version des Artikels. Die englische Version finden Sie hier.
Kurzbeitrag
Klima

[Medizinische Ausbildung und die COVID-19-Pandemie – eine Generalprobe für die „Klima-Pandemie“?]

 Christoph Nikendei 1
Anna Cranz 1
Till Johannes Bugaj 1

1 Universitätsklinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Heidelberg, Deutschland

Zusammenfassung

Der vorliegende Kommentar wirft die Frage auf, ob die COVID-19-Pandemie als eine Generalprobe für das zu sehen ist, was uns in der bevorstehenden Klimakrise erwartet. Eine Vielzahl an Faktoren hat dazu beitragen, dass wir die Herausforderung der Corona-Pandemie aktiv bewältigen konnten und können. Hierzu gehören: die Integration von Wissenschaftlichkeit, der Einbezug von Medizinstudierenden, Lehre und Digitalisierung als Impulsgeber, Informationen über das SARS-CoV-2-Virus, deren Integration in die Curricula und nicht zuletzt eine handlungsbezogene Forschung. Die Klimakrise wird uns jedoch im Sinne einer „Premiere der Klima-Pandemie“ aller Voraussicht nach vor noch größere Bedrohungen und Schwierigkeiten stellen. Die Beachtung und Integration wissenschaftlicher Evidenz, die Lehre über die Auswirkungen der globalen Erwärmung, die bewusste Wahrnehmung ärztlicher Rollen- und Vorbildfunktionen sowie die Digitalisierung können dabei als Handlungsimpulse von besonderer Relevanz sein.


Schlüsselwörter

COVID-19, medizinische Ausbildung, globale Erwärmung, plantare Gesundheit, Klimawandel

SARS-CoV-2-Pandemie – eine Hauptprobe

Der Vorhang fällt erstmalig im Sommer 2020. Einsames Klatschen des Regisseurs im Zuschauerraum. Es hat fast geklappt. Noch deutlich verbesserungswürdig. Aber sie hat einigermaßen geklappt, die Generalprobe. Es bleibt noch etwas Zeit vor dem Ernstfall. Zum Glück. Zum Glück noch etwas Zeit, sich auf relevante Schlüsselsituationen zu besinnen – nochmals reflektieren, konzentrieren, einzelne Passagen korrigieren. Anders als eine Generalprobe im Theater kam die SARS-CoV-2-Katastrophe weitgehend unvermittelt und plötzlich über uns - mit konkreten, sich zunehmend konturierenden Bildern weltweiter Gefährdung. Wir haben es in vielen Ländern der besonnenen, reflektierten und wissenschaftsbasierten Vorgehensweise der in der Gesundheitspolitik und der im Gesundheitswesen Tätigen – und damit nicht zuletzt den Medizinstudierenden – zu verdanken, dass wir diese Generalprobe dann doch „noch einigermaßen über die Bühne gebracht“ haben, auch wenn der Preis hoch war.

Medizinstudierende waren zusammen mit ÄrztInnen in der Infektionsprävention, der direkten Hilfe und Versorgung von PatientInnen mit Verdacht auf SARS-CoV-2-Infektion oder mit COVID-19-PatientInnen engagiert [1]. Telemedizinische Ansätze rückten für die Ausbildung und Unterstützung von PatientInnen in den Vordergrund – mit unmittelbaren Implikationen für die ÄrztInnen der Zukunft [2], [3]. In den medizinischen Curricula wurden zügig Online-Angebote [4] und sogar im Bereich der Simulation Distance-Learning-Modelle [5] integriert. Nicht zuletzt wurde auch das Virus selbst zum Betrachtungsgegenstand der medizinischen Hochschullehre. In Windeseile wurden Forschungsgelder mobilisiert und WissenschaftlerInnen begaben sich mit ihren (studentischen) DoktorandInnen und wissenschaftlichen Hilfskräften auf die Suche nach suffizienten Behandlungsmethoden und einem Impfstoff. Und trotz der erheblichen Herausforderungen und der psychischen Belastung der Medizinstudierenden [6] zeigte sich auch ein beinahe resilientes Verhalten. Die Überzeugung in Hinblick auf die wissenschaftlichen Daten zu Reproduktionszahl, der Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen und Therapieansätzen, der Glaube an unsere technologischen Möglichkeiten haben uns möglicherweise „den Kopf aus der Schlinge gezogen“ und lassen uns bestenfalls für zukünftige „SARS-CoV-2-Wellen“ gewappnet sein.

Es wird ernst – die Klima-Pandemie

Umso zynischer scheint es, dass jener Machbarkeitsglauben, unser Unverwundbarkeitserleben, unsere Technologiefixiertheit und die permanente „Weltreichweitenvergrößerung“ [7] uns direkt in die Aufführung der „Klima-Pandemie“ führt. Diese wirkt weniger konkret, weniger fassbar, oftmals noch weniger verängstigend. Doch leider handelt es sich hierbei um einen trügerischen Irrglauben. Hitze wird weite Teile der Erde unbewohnbar machen, der Meeresspiegel wird erheblich steigen, 140 Millionen zusätzliche Klimaflüchtlinge werden sich bis 2050 auf den Weg in weniger lebensfeindliche Regionen machen, in Folge werden sich Sozialgefüge und Wirtschaftsräume destabilisieren [8]. Im Gegensatz zu der überraschenden Generalprobe der COVID-19-Pandemie haben wir die Chance, geplant in die Aufführung der „Klima-Pandemie“ zu gehen.

Über 26.000 WissenschaftlerInnen haben in der Zeitschrift Science öffentlich bekundet, dass die Forderungen der Fridays-for-Future-Bewegung ernst zu nehmen sind und auf einer korrekten Interpretation wissenschaftlicher Daten und Erkenntnisse basieren [9]. Der “Lancet Countdown on Health and Climate Change” [10] besagt, dass die Gesundheit unserer Gesellschaft und unserer Kinder wesentlich vom Umgang mit den klimatischen Veränderungen abhängt. Obwohl es bereits wichtige Initiativen und Bemühungen gibt, die von ÄrztInnen getragen werden, tun sich heute mehr denn je folgende Fragen auf:

  • Warum nehmen wir die wissenschaftlichen Daten über die aktuellen und bevorstehenden Auswirkungen der globalen Erwärmung nicht als Richtschnur unseres Handelns und als ebenso ernstzunehmend wahr, wie wir es bei der COVID-19 Pandemie tun und getan haben [11]?
  • Warum nehmen (zukünftige) ÄrztInnen Ihre Vorbildfunktion und ärztliche Verantwortung angesichts der Klimakrise nur begrenzt wahr [12]?
  • Warum werden wir noch immer unzureichend in Hinblick auf die medizinische Bedeutung der klimatischen Veränderungen ausgebildet [13]?
  • Warum sorgen wir nicht dafür, dass die Orte, an denen wir ausgebildet und unsere PatientInnen behandelt werden, zu Orten der psychischen und körperlichen Nachhaltigkeit, zu „grünen Krankenhäusern“, werden [14]?
  • Warum nutzen wir nicht das Wundermittel der Digitalisierung, das bei der COVID-19 Pandemie erfolgreich für Distant-Learning und Distant-Treatment eingesetzt wurde, um einen wichtigen Beitrag zur Minimierung der Klimabelastung in der „Klimapandemie“ zu leisten?
  • Weshalb sollten ärztliche Fort- und Weiterbildungen, nationale und internationale Teamtreffen und Forschungskonvente [15] nicht von dieser längst verfügbaren Technologie profitieren?

Die nächste Premiere steht kurz bevor – der Vorhang hebt sich bald. So bald, dass sogar die Notwendigkeit des zivilen Ungehorsams von im Gesundheitswesen Tätigen in renommierten medizinischen Fachzeitschriften diskutiert wird [16]. Wir sollten also reflektieren, uns konzentrieren und korrigieren – solange dies überhaupt noch denkbar ist.

Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

[1] Li HOY, Bailey AM. Medical Education Amid the COVID-19 Pandemic: New Perspectives for the Future. Acad Med. 2020;11(95):e11-e12. DOI: 10.1097/ACM.0000000000003594
[2] Wang JJ, Deng A, Tsui BC. COVID-19: novel pandemic, novel generation of medical students. Br J Anaesthesia. 2020;3(125):E328-E330. DOI: 10.1016/j.bja.2020.05.025
[3] Aron JA, Bulteel AJ, Clayman KA, Cornett JA, Filtz K, Heneghan L, Hubbell KT, Huff R, Richter AJ, Yu K, Weil HF. A Role for Telemedicine in Medical Education During the COVID-19 Pandemic. Acad Med. 2020;11(95):e4-e5. DOI: 10.1097/ACM.0000000000003572
[4] Abbasi S, Ayoob T, Malik A, Memon SI. Perceptions of students regarding E-learning during Covid-19 at a private medical college. Pak J Med Sci. 2020;36(COVID19-S4):S57-S61.
[5] Chao TN, Frost AS, Brody RM, Byrnes YM, Cannady SB, Luu NN, Rajasekaran K, Shanti RM, Silberthau KR, Triantafillou Y, Newman JG. Creation of an Interactive Virtual Surgical Rotation for Undergraduate Medical Education During the COVID-19 Pandemic. J Surg Educ. 2020;S1931-7204(20):30232-30234. DOI: 10.1016/j.jsurg.2020.06.039
[6] Chandratre S. Medical Students and COVID-19: Challenges and Supportive Strategies. J Med Educ Curr Develop. 2020;7:1-2. DOI: 10.1177/2382120520935059
[7] Rosa H. Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp verlag; 2016.
[8] Nikendei C, Bugaj TJ, Nikendei F, Kühl SMK. Klimawandel: Ursachen, Folgen, Lösungsansätze und Implikationen für das Gesundheitswesen. Z Evid Fortbild Qual Gesundhswes. 2020;156:59-67. DOI: 10.1016/j.zefq.2020.07.008
[9] Hagedorn G, Kalmus P, Mann M, Vicca S, Van den Berge J, van Ypersele JP, Bourg D, Rotmans J, Kaaronen R, Rahmstorf S, Kromp-Kolb H, Kirchengast G, Knutti R, Seneviratne SI, Thalmann P, Cretney R, Green A, Anderson K, Hedberg M, Nilsson D, Kuttner A, Hayhoe K. Concerns of young protesters are justified. Science. 2019;6436(364):139-140. DOI: 10.1126/science.aax3807
[10] Watts N, Amann M, Arnell N, Ayeb-Karlsson S, Belesova K, Boykoff M, et al. The 2019 report of The Lancet Countdown on health and climate change: ensuring that the health of a child born today is not defined by a changing climate. Lancet. 2019;10211(394):1836-1878. DOI: 10.1016/S0140-6736(19)32596-6
[11] Nikendei C. After the game is before the game! GMS J Med Educ. 2020;37(3):Doc36. DOI: 10.3205/zma001329
[12] Bugaj TJ, Cranz A, Nikendei C. The health-care sector's role in climate stabilisation. Lancet. 2020;396(10244):91-92. DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30808-4
[13] Nikendei C, Cranz A, Bugaj TJ. Two slides to make you think: 2slides4future, an initiative for teachers and lecturers advocating climate change education and teacher-learner dialogue. Med Educ. 2020;54(5):467. DOI: 10.1111/medu.14081
[14] Litke N, Szecsenyi J, Wensing M, Weis A. Green Hospitals: Klimaschutz im Krankenhaus. Dtsch Arztebl Int. 2020;117(11):A-544/B-468.
[15] Wynes S, Donner SD, Tannason S, Nabors N. Academic air travel has a limited influence on professional success. J Clean Product. 2019;226:959-967. DOI: 10.1016/j.jclepro.2019.04.109
[16] Bennett H, Macmillan A, Jones R, Blaiklock A, McMillan J. Should health professionals participate in civil disobedience in response to the climate change health emergency? Lancet. 2020;395(10220):304-308. DOI: 10.1016/S0140-6736(19)32985-X