[EYE-EKG: Eine RCT-Studie zum Einfluss von Studierendenmerkmalen und Eye-Tracking-Expertenvideos mit Cued Retrospective Reporting auf die EKG-Befundungskompetenz von Studierenden]
Aline D. Scherff 1Stefan Kääb 2
Martin R. Fischer 1
Markus Berndt 1
1 LMU Klinikum, LMU München, Institut für Didaktik und Ausbildungsforschung in der Medizin, München, Deutschland
2 LMU Klinikum, LMU München, Medizinische Klinik und Poliklinik I, München, Deutschland
Zusammenfassung
Hintergrund: Die Lehre der EKG-Befundung stützt sich häufig auf visuelle Schemata. Die resultierende EKG-Befundungskompetenz durch die Studierenden ist jedoch oft mangelhaft. Die Expertiseforschung zeigt, dass die Blickmuster von Experten häufig von den Schritten abweichen, welche beim Schema-Lernen vermittelt werden. Die vorliegende Studie visualisierte den Blick eines Kardiologieexperten bei der EKG-Befundung – durch Eye-Tracking-Videos mit Cued Retrospective Reporting (CRR) – und untersuchte das Potenzial als zusätzliche expertenbasierte Möglichkeit zur Verbesserung der EKG-Befundungskompetenz von Medizinstudierenden.
Methodik: N=91 Medizinstudierende nahmen an der RCT einer EKG-Lernstudie teil, die darauf abzielte, die EKG-Befundungskompetenz von Medizinstudierenden zu verbessern. Sie erhielten entweder das Standard-Training (n=44) mit vier Lernfällen oder zusätzlich das neu entwickelte Eye-Tracking-Video mit CRR-Audiokommentarmaterial (n=47). Drei Befundungsscores, die sich auf verschiedene Aspekte der EKG-Befundungskompetenz beziehen, wurden aus den prä-post Multiple-Choice EKG-Tests entwickelt. Die Effekte des EYE-EKG Trainings und zusätzlicher Studierendenmerkmale (z. B. Vorerfahrung, Interesse) auf die EKG-Befundungskompetenz der Studierenden wurden mit Hilfe von t-Tests und multivariater linearer Regression bewertet.
Ergebnisse: Es zeigte sich ein kleiner, nicht signifikanter Lernvorteil des EYE-EKG-Trainings, entsprechend einer Tendenz zu einem größeren Wissenszuwachs im Vergleich zum Standard-Training. In den durchgeführten multivariaten Regressionsmodellen war die prädiktive Rolle von Fall 1 ein unerwartetes Ergebnis, welches weiter exploriert werden muss.
Fazit: Der zusätzliche Lernfortschritt nach einer nur 9-minütigen Intervention – bei welcher Videos von Echtzeit-Blickmustern eines Experten in Kombination mit der auditiven Präsentation des Denkprozesses während der EKG-Befundung verwendet wurden – sind ein vielversprechendes Ergebnis. Darüber hinaus wurde eine Reihe von spezifischen Leistungsmerkmalen identifiziert, die es den Studierenden ermöglichen, am besten vom EKG-Training zu profitieren. Mögliche Modifikationen der Lernintervention werden vorgeschlagen.
Schlüsselwörter
Eye-Tracking, Lernen, Elektrokardiographie, Medizinstudierende, Clinical Reasoning, Diagnose
1. Einleitung
1.1. Lernen und Lehren von EKG-Befundungskompetenz
Die Befundung von Elektrokardiogrammen (EKG) ist ein klinisch hoch relevanter Teil der medizinischen Ausbildung und gilt als anvertraubare professionelle Tätigkeit, die Medizinstudierende zum Studienabschluss beherrschen müssen [1], [2].
Über die Wichtigkeit des EKGs als diagnostischen Test besteht derzeit weitgehende Einigkeit, und die Bedeutung einer korrekten Befundung von Patientenfällen zeigt sich auch darin, dass Patientenfälle, bei denen ein EKG von Bedeutung ist, besonders fehleranfällig sind und zu einer fehlerhaften Behandlung führen können [3]. Aus diesen Gründen ist die EKG-Befundung Teil der medizinischen Grundausbildung [4], und die Genauigkeit der EKG-Befundungskompetenz und deren Verbesserung ist bereits ein vielfach untersuchtes Thema. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2020 hierzu umfasste 10056 Teilnehmende aus 78 Studien [5]. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Performanz häufig schlecht ist, bei einer mittleren Genauigkeit von 42% bei Medizinstudierenden, und sich bei Kardiologen auf 75% verbessert. Insgesamt birgt die EKG-Befundung ein kontinuierliches Verbesserungspotenzial während der gesamten medizinischen Laufbahn, und die Entwicklung frühzeitiger Ansätze für ein erfolgreicheres Erlernen dieser Fähigkeit könnte sich sehr positiv auf die medizinische Praxis auswirken.
Bisher konnte insgesamt gezeigt werden, dass die verfügbaren Trainings die EKG-Befundungskompetenz mäßig verbessern, und der Lernfortschritt wurde auch mit einer verlässlichen Dosis-Wirkungs-Beziehung in Verbindung gebracht [5]. Dennoch gibt es bis heute keinen allgemein anerkannten Goldstandard, wie EKG-Befundungskompetenzen vermittelt und entsprechende Kenntnisse bewertet werden sollten [6]. Ein gängiger Ansatz für die Vermittlung der EKG-Befundung beruht auf didaktisch gestalteten Schemata oder Checklisten, die im Befundungsprozess als organisatorische Struktur verwendet werden können, um eine professionelle und vollständige Befundung sicherzustellen. Der Rückgriff auf Experten zur Vermittlung dieser Befundungsschemata ist jedoch ressourcenintensiv, während die Verwendung eigener Schemata durch die Studierenden nachweislich eine größere kognitive Anforderung für sie darstellt [7].
Darüber hinaus zeigt die Expertiseforschung, dass Ärzt*innen mit zunehmender Expertise zunehmend von Standardschemata abweichen und dadurch schneller und zu genaueren Diagnosen gelangen [8], [9], [10]. Expertenwissen in anderen Bereichen, z. B. im Vergleich zwischen Experten und Anfängern beim Schachspiel, ist bereits gut untersucht. Nun ist es sowohl für die Wissenschaft als auch für Medizinstudierende als EKG-Novizen von großem Interesse, so umfassend wie möglich auch Beispiele gelingender EKG-Befundung durch Experten erlebbar zu machen und daraus zu lernen. Methoden wie Eye-Tracking, welches das Expertenwissen für die medizinische Lehre von EKG-Befundung visualisiert, ohne sich auf das Standardschema-Lernen verlassen zu müssen, könnten einen direkten Einblick (Eye-Tracking als Darstellung der tatsächlichen Blickmuster) als Vorbilder für gute EKG-Befundung ermöglichen.
1.2. Expertise in medizinischen Darstellungen via Eye-Tracking und verbalen Berichten
Über das oben genannte Schema-Lernen hinaus wurden Unterschiede in ihrer Herangehensweise an medizinische Darstellungen, wie z. B. EKGs, zwischen Experten und Anfängern bereits vielfach nachgewiesen. Eine Übersichtsarbeit von Gegenfurtner et al. [11] kommt zu dem Schluss, dass zwei der wichtigsten Ansätze zum Aufzeigen solcher Unterschiede in den jeweiligen Strategien die Verfolgung von Augenbewegungen sowie die Erfassung und Verwendung von verbalen Berichten waren. Diese beiden Ansätze werden als sich gegenseitig ergänzend betrachtet, da das Eye-Tracking eine relativ neue Technologie ist, welche die visuelle Suche und Wahrnehmung demonstriert und sichtbar macht und die verbalen Berichte einen Einblick in die klinische Argumentation ermöglichen, um dem Gesehenen eine Erklärung zu geben [12].
Zu den vorrangigen Themen, die im Hinblick auf mögliche Unterschiede zwischen Experten und Anfängern untersucht wurden, gehören die aktive Lernzeit, die Augenbewegungsmuster von Experten, die Unterschiede in der visuellen Aufmerksamkeit, die visuellen Suchmuster und der Erfolg einer Vermittlung visueller Suchstrategien (Review in [13]).
Insgesamt zeichnet sich der Blick von Kardiologieexperten durch eine stark fokussierte Aufmerksamkeit auf wenige, wegweisende Punkte bei der Befundung von EKGs aus, sowie durch verbale Berichte, die bereits Hypothesen mit relevanten diagnostischen Informationen enthalten [11].
Weniger Fortschritte wurden jedoch dabei erzielt, spezifische (expertenähnliche) Suchstrategien in messbaren Fähigkeitszuwachs der Lernenden durch eine entsprechend gezielte Lehre zu verwandeln: So zeigte eine Studie von Kok et al., dass ihr Training zu Röntgenbildern zwar zu einer systematischeren Suche, aber nicht zu einer höheren diagnostischen Präzision führte, im Vergleich zu einer Studierendengruppe, die die vorgeschlagene Strategie nicht anwandte [14].
Basierend darauf wurde vorgeschlagen, dass Anfänger – denen es an a priori Hypothesen mangelt, welche es ihnen ermöglichen würden von den verkürzten Schemata der Experten zu lernen – stattdessen von einem Ansatz profitieren können, der die Aufmerksamkeit der Lernenden etwas allgemeiner nur auf bestimmte Bereiche lenkt [13], sie aber ihre eigenen Schlüsse ziehen lässt. Obwohl dies teilweise auch durch geteilte Aufmerksamkeit während der persönlichen Kommunikation erreicht werden kann, ermöglicht die Verwendung eines Eye-Trackers zur Präsentation der Augenbewegungen via Visualisierung von Experten-Scanpfaden [15], [16] diese Strategie nun auch für ein selbstgesteuertes digitales Lernen. Diese Strategie eignete sich besonders für COVID-19-Semester, in denen kein Experte zur persönlichen Lehre zur Verfügung stand. Darüber hinaus hat Eye-Tracking (im Gegensatz zu konventionellen Vorlesungen, bei denen Laserpointer als Hilfsmittel verwendet werden) den zusätzlichen Vorteil, dass alle Hinweise eindeutig dargestellt werden und für die Lernenden jederzeit sichtbar sind. Wichtig ist auch, dass die visuellen Befundungsmuster so dargestellt werden, wie sie wirklich sind, und nicht so, wie sie nach Meinung des dozierenden Experten dargestellt werden sollten.
1.3. Cued Retrospective Reporting
Eine vielversprechende Methode zur Unterstützung studentischer Lernprozesse ist die Kombination von Messung der Augenbewegungen (Eye-Tracking) und Cued Retrospective Reporting (CRR, unterstützte verbale Erklärung der Augenbewegungen) [17]. CRR ist eine spezifische Form eines retrospektiven thinking-aloud Protokolls, das auf Augenbewegungen basiert. Im Gegensatz zu den Methoden des gleichzeitigen lauten Denkens werden die Versuchspersonen bei beim CRR aufgefordert, ihre Gedanken erst nach Beendigung einer Aufgabe verbal zu schildern, wobei sie in diesem Szenario ihre eigenen, vorher aufgezeichneten Blickbewegungsmuster als Gedächtnisstützen verwenden. Der Vorteil von CRR besteht darin, dass es die Performanz bei der Aufgabe nicht beeinträchtigt [12], d. h. dass das Risiko erhöhter Aufgabenanforderungen, geteilter Aufmerksamkeit oder der Änderung intuitiver Blickmuster, um verbalen Beschreibungen entsprechen zu können, so vermieden werden. Es ist bekannt, dass die Ausführenden insgesamt hinreichend genau retrospektiv berichten können, und dies gilt insbesondere für kurze Aufgaben die 5-10 Sekunden dauern [18], wie z. B. für die Zeit, die ein Experte zur Befundung eines EKGs benötigt. Darüber hinaus postuliert Helle (2017), dass die retrospektive Verbalisierung bei sehr kurzen Aufgaben, bei denen einfach nicht genügend Zeit für die Verbalisierung zur Verfügung steht, die bevorzugte Option zur Erlangung eingehenderer Erklärungen zu sein scheint. Dies wurde auch experimentell nachgewiesen, wobei sich zeigte, dass im Vergleich zu anderen Methoden das CRR qualitativ gleichwertig ist und dabei eine größere Quantität an Kommentaren erzeugt [12], [19].
Kurz gesagt wurde diese Methode bereits in einer Vielzahl von Lernszenarien erfolgreich eingesetzt, z. B. beim Problemlösen [17], bei Aufgaben zur Informationssuche [19], [20], [21] und bei der Interpretation von Diagrammen [22], stellt jedoch in Zusammenhang mit dem EKG-Lernen eine Innovation dar. Studien deuten darauf hin, dass Eye-Tracking und CRR eine geeignete Methode zur Unterstützung des Lernens sein können [15], [17], und die begrenzte Literatur, die hierzu über medizinische Bilder verfügbar ist, legt nahe, dass CRR derzeit einen neuartigen Ansatz für den medizinischen Unterricht darstellt.
1.4. Ziel der aktuellen Studie
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass EKG-Befundung ein wichtiger Bestandteil des Lehrplans für Medizinstudierende ist, jedoch häufig anhand von Schemata gelehrt wird, was derzeit zu schlechten Leistungsergebnissen führt. Ein alternativer, neuartiger Ansatz für das Lehren und Lernen von EKG-Befundungskompetenz kann durch ein kombiniertes Eye-Tracking- und retrospektives thinking-aloud Protokoll erreicht werden.
In der vorliegenden Studie wurden die Auswirkungen von Eye-Tracking Videos mit CRR eines Kardiologieexperten während der EKG-Befundung auf die EKG-Befundungskompetenz von Medizinstudierenden untersucht. Neben der bereits erwähnten Evaluierung dieses neuen Trainings wurden die EKG-Befundungskompetenz der Studierenden und der potenzielle Beitrag des CRR-basierten Lernens vor dem Hintergrund mehrerer anderer Merkmale, welche zu ihren EKG-Befundungskompetenzen beitragen, bewertet. Dieses umfasste eine Reihe von kurz- und langfristigen Faktoren wie das Vorwissen, die aktuelle Motivation und drei Konzeptualisierungen von EKG-Lernfortschritt (anfängliches Erkennen von EKG-Merkmalen, Vermeiden von Fehlern und Erreichen einer vollständig korrekten Diagnose).
Forschungsfrage eins untersuchte den Nutzen von CRR-Videos für das EKG-Lernen von Studierenden und stellte die Hypothese auf, dass die Interventionsgruppe (INT) nach dem Training bessere EKG-Befundungskompetenz zeigen würde als die Standard-Training Gruppe (TAU). Die zweite Forschungsfrage beschäftigte sich damit, welche Merkmale die post-Training EKG-Befundungsscores am besten vorhersagen könnten. Dabei wurde die Hypothese aufgestellt, dass diese Fähigkeiten erstens umfassend statistisch vorhergesagt werden könnten und zweitens, dass sich je nach der o.g. Konzeptualisierung des Outcomes spezifische Kombinationen relevanter Merkmale herausbilden würden.
2. Materialien und Methoden
2.1. Design
Die Studie wurde als randomisierte kontrollierte Studie einer Lernintervention für fortgeschrittene Medizinstudierende im vierten bis fünften Studienjahr konzipiert, in welcher die Effekte von Experten Eye-Tracking Videos mit CRR auf die EKG-Befundungskompetenz der Studierenden in der Interventionsgruppe (INT) im Vergleich zur „Training as usual“ Standard-Trainingsgruppe (TAU) getestet wurden. Die ethische Unbedenklichkeitsbescheinigung zur Durchführung wurde von der örtlichen Ethikkommission erteilt.
2.2. Materialien
Die Entwicklung des Materials umfasste die anfängliche Aufzeichnung des EYE-EKG Videos (siehe Videoclip für einen Auszug: Anhang 1 [Anh. 1]), ein Experten Eye-Tracking der EKG-Befundung und die Erstellung von visualisierten Blickmuster-Videos mit CRR-Audiokommentar (für eine vollständige Beschreibung siehe Anhang 2 [Anh. 2], Punkt A).
2.2.1. Lernintervention
Die Kombination aller 15 Videoclips – welche die jeweiligen Blickmuster des Experten während der EKG-Befundung enthielten – mit dem CRR-Audiokommentar ergab ein gemeinsames (EYE-EKG) Video von 9m 13s, das gleichzeitig sowohl den sichtbaren Expertenblick als auch den CRR-Audiokommentar präsentierte. Die Präsentation dieses Videos stellte den einzigen Unterschied zwischen den Teilnehmenden der INT- und der TAU-Gruppe in der nachfolgend beschriebenen Interventionsphase dar.
Die Intervention testete dieses neu entwickelte Video auf seinen potenziellen Nutzen für das EKG-Lernen der Studierenden und wurde der INT-Gruppe nach Erfassung der Teilnehmendenmerkmale und einem EKG- Prä-Test als dritte Komponente präsentiert (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]).
Abbildung 1: Überblick über die in der Studie verwendeten Instrumente und Durchführung. Die Zahlen beziehen sich auf die Reihenfolge der Präsentation.
2.2.2. Instrumente
Das EKG-Training der Studierenden bestand aus 9 (TAU) bzw. 10 (INT) Komponenten, die in einer einzigen Online-Sitzung von maximal 5 Stunden Dauer bearbeitet wurden. Alle Fragebögen, mit denen die EKG-Kompetenzen getestet wurden (siehe Abbildung 1 [Abb. 1], Komponenten 2, 4, 5, 7, 8, 9), wurden bereits in Vorgängerstudien verwendet, und eine detailliertere Beschreibung, einschließlich des Inhalts der Fragen, der Antwortmöglichkeiten und der Validierung ist dort verfügbar [23], [24], [25]. Neben der Erprobung des EYE-EKG Videos als Lerntool bestand der zweite neue Aspekt dieser Studie in der Untersuchung des Nutzens der eben erwähnten EKG-Komponenten im Rahmen von drei verschiedenen Outcome Aspekten der EKG-Befundung (Merkmalserkennung, Antwort-Auswahlstrategien, klinische Anforderungen). Zum besseren Verständnis wird daher im Folgenden eine nur kurze Zusammenfassung aller Selbstbewertungs-Skalen gegeben und eine dagegen ausführlichere Erläuterung der EKG-Komponenten der Teilnehmenden aufgeführt.
2.2.2.1. Selbst-Rating Skalen
Zu Beginn der Sitzung (Komponente 1) berichteten die Teilnehmer über ihr Interesse an EKGs und ihr Vertrauen in ihre eigene Lernstrategie. Das Interesse umfasste 6 Items, wobei sich das Item mit der höchsten Item-Gesamt-Korrelation auf „Ich finde die Erforschung der Herausforderungen der EKG-Befundung spannend“ bezog und eine Skalenreliabilität von Cronbachs α=.76 aufwies. Lernen (27 Items α=.90) fragte z.B. „Ich bin gut darin, die Zeiten zu erkennen, in denen ich am besten lernen kann“. Die Datenerhebung zur Mitte der Sitzung (Komponente 6) umfasste die Bewertung der Zugänglichkeit des Materials (8 Items, α=.81, „Wie einfach oder schwierig fanden Sie es, die neuen Informationen mit dem zu verbinden, was Sie bereits über das Thema wussten“) und den mentalen Flow-Zustand in Bezug auf die Intensität der Erfahrung (11 Items, α=.83, "Während der bisherigen Lernsitzung fand ich das Lernen wirklich spannend"). Bei der Bewertung am Ende der Sitzung (Komponente 10) wurde nach dem von den Teilnehmenden wahrgenommenen Lerngewinn gefragt (Selbst-Rating Nutzen des Trainings 15 Items, α=.85, „Ich würde meinen Kommilitonen das Üben mit diesem EKG-Training empfehlen“). Die Antworten auf alle Selbst-Ratings wurden als 6-stufige Likert-Items erhoben, und zur leichteren Interpretierbarkeit wurden die ermittelten Rohwerte der Zustimmung auf 0-100% als Gesamtwert normiert. Darüber hinaus wurden Indikator-Items erhoben, mit denen das Ausmaß der Motivation und der Ausgeruhtheit (0-100%) der Studierenden mit einem einzigen Item vor, während und nach der Lerneinheit abgefragt wurde (jeweils in Komponente 1, 6 und 7 enthalten).
2.2.2.2. EKG-Befundungskompetenz von Studierenden
Der Prä-Test (Komponente 2) zur Messung des theoretischen EKG-Wissens bestand aus 42 Aufgaben mit jeweils 4 Antwortmöglichkeiten (z. B. „Welche der folgenden PQ-Zeiten wird/werden als physiologisch angesehen? – 0,12s/ 0,11s/ 0,20s/ 0,21s“). Die 4 klinischen Fälle (Komponenten 4, 5, 7, 8) zeigten jeweils ein Bild eines echten EKGs, das Schritt für Schritt sowohl visuell als auch klinisch interpretiert werden musste, angeleitet durch 4 Testfragen pro Fall mit einer großen, variierenden Anzahl von Antwortmöglichkeiten und schrittweisem Feedback. Zum Beispiel sollten die Teilnehmenden bei Fall 1 im Zuge einer einzigen Frage aus einer langen Liste alle Merkmale auswählen, die auf das gezeigte EKG zutrafen, und zwar in Bezug auf die Herzfrequenz (3 Optionen), den Rhythmus (12), die Position des Herzens (7), Anomalien der Intervalle (7), der Amplituden (3) und zu der Entstehung, Ausbreitung und Rückbildung der elektrischen Erregung des Herzmuskels (5). Der Post-Test mit schnellen praktischen EKG-Szenarien (Komponente 9) bestand aus 9 echten Patienten-EKGs mit insgesamt 69 Fragen mit 4 Antwortmöglichkeiten (z. B. „Welche Verdachtsdiagnose(n) sollte(n) angesichts der Symptome und des EKGs von Frau B. primär in Betracht gezogen werden? - Kürzlich aufgetretene Myokardischämie/Lungenarterienembolie/Kardiomyopathie/Elektrolyt-Entgleisung“).
2.2.2.3. Berechnung der Befundungsscores
Das Hauptaugenmerk der Studie (und ihr primäres Ergebnis) sind die quantitativen Unterschiede in der EKG-Befundungskompetenz (0-100% prä vs. post Scores) am Ende der Schulung. Obwohl alle Testinhalte in Bezug auf EKGs vollständig mit dem nationalen kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin übereinstimmen und daher basierend auf dem Probandeneinschluss bekannt sein sollten, stellte die gezielte Gestaltung als Multiple-Choice-Fragen mit einer unbekannten Anzahl richtiger Antworten (anstelle einer einzigen) eine besondere Herausforderung für die Teilnehmenden dar, welche die möglichen Kombinationen und damit die Schwierigkeit des Tests erheblich erhöhte.
Um verschiedene Aspekte des EKG-Lernfortschritts zu bewerten, wurden drei Outcome Scores abgeleitet, die jeweils spezielle strategische Aspekte und Lernmerkmale kennzeichnen und unterschiedliche Schlussfolgerungen zulassen: Ein Basis Score (BS), welcher die korrekt gewählten Optionen als Prozentsatz aller Richtigen zusammenfasst wurde erstellt, um die Fähigkeit der Studierenden zu bewerten und zunächst relevante EKG-Merkmale aus allen möglichen Kombinationen zu identifizieren (Beispiel Prä-Test: 42 Items *4 Optionen=nur 168 wählbare sinnvolle Optionen insgesamt, aber mathematisch 24=16 mögliche Kombinationen für jedes der 42 Items; 67 Antworten sachlich richtig; so erzielt ein Teilnehmer, der z.B. 49 richtige Felder ankreutz, 49/67=0,73=73%). Zweitens ein Relativer Score (RS), der den Anteil der richtig und der falsch gewählten Optionen angibt (z. B. 73% richtig–25% falsch=48%), um die Sicherheit der Teilnehmenden bei ihren Antworten zu bewerten und um dafür zu korrigieren, ob sie eher raten oder eher vorsichtig kreuzen. Drittens eine sehr schwer zu erreichender Conservativer Score (CS), der nur Punkte für vollständig korrekte Items vergibt (z. B. alle richtigen Optionen und keine falschen Optionen pro Item ausgewählt; maximal 42 Punkte für den Prä-Test=100%) und sich auf die Anforderung bezieht, dass Medizinstudierende nach Erreichen der Approbation alle Patientensymptome in der richtigen Kombination genau erkennen und behandeln sollen, um eine gute klinische Praxis zu gewährleisten und die Patientensicherheit zu garantieren. Die drei-Score Konzeptualisierungen wurden auf alle EKG-Komponenten angewendet (siehe Abbildung 1 [Abb. 1], Komponenten 2, 4, 5, 7, 8, 9): So wurden bei der Modellierung von BS durchgängig die BS-Prä-Test-Ergebnisse, die BS-Ergebnisse für die klinischen Fälle 1-4 und die BS-Post-Test-Ergebnisse berücksichtigt; die RS-Modelle basierten auf allen RS-Ergebnissen und die CS-Modelle auf allen CS-Ergebnissen.
2.3. Durchführung
Alle Teilnehmenden (N=91; INT n=47; TAU n=44) wurden nach dem Zufallsprinzip einer Gruppe zugeteilt und absolvierten das Online-Training. Dieses umfasste die Abfrage von Teilnehmendenmerkmalen, einen EKG-Prä-Test, vier klinische Fälle mit einer Zwischen-Erhebung in der Mitte der Sitzung, einen EKG-Post-Test und eine Post-Test-Erhebung (Komponenten und Reihenfolge der Präsentation siehe Abbildung 1 [Abb. 1]) in pandemie-konformen Kleinserien in Präsenz unter standardisierten Bedingungen an einem ablenkungsfreien Universitäts-PC-Cluster. Alle Teilnehmenden waren aktuelle Medizinstudierende der LMU München. Sie wurden per E-Mail rekrutiert, und die Teilnahme war eine extracurriculäre, freiwillige Aktivität. Alle Medizinstudierenden hatten bereits ihren Kardiologieschein bestanden, waren aber noch keine approbierten Ärzt*innen. Die Interventionsgruppe wurde instruiert, das EYE-EKG Video mindestens einmal vollständig anzuschauen, wobei es ihnen freigestellt war, es mehrfach anzusehen. Alle Items der Trainingskomponenten waren in fixer Reihenfolge und die Antworten konnten nach dem Absenden nicht mehr geändert werden, da teilweise nachträglich weitere Informationen verfügbar waren. Es wurde eine ähnliche aktive Lernzeit der Gruppen an den Aufgaben und eine erfolgreiche Randomisierung nachgewiesen (Pilotierung und Manipulationskontrollen, siehe Tabelle 1 [Tab. 1] der Ergebnisse).
Tabelle 1: Pilotierung und Manipulationskontrolle
Für die statistische Analyse wurden standard parametrische Tests verwendet, d. h. t-Tests für gruppenweise Vergleiche und lineare Regression für die multivariate Modellierung (zur Modellbildung siehe Anhang 2 [Anh. 2], Punkt B, statistische Analysen und Punkt C, bivariate Assoziationen der Modellvariablen).
3. Ergebnisse
3.1. Stichprobenbeschreibung
Alle Teilnehmenden mussten vor der Studie ihren Kardiologieschein bestanden haben und die Stichprobe war typisch für fortgeschrittene Medizinstudierende, bestehend aus 76% Frauen und 24% Männern im Alter von M=24.14 (SD=3.04) Jahren. Sie standen kurz vor dem Ende ihres Medizinstudiums mit einer Semesterzahl von M=9.79 (SD=1.41). Eine vorherige medizinische Berufsausbildung hatten 18% absolviert. Auch die Bildungsjahre (M=17.57, SD=2.27) spiegeln wider, dass sie sich tendenziell kontinuierlich in formaler Ausbildung befanden. Eine freiwillige Kardiologiefamulatur wurde von 35% der Teilnehmenden angegeben. Ein ebenso großer Anteil (29%) gab an, nie ein explizites EKG-Training erhalten zu haben, während der Rest angab, während des Studiums (31%) oder durch eine Kombination aus universitären, Online- und externen Quellen (40%) ein EKG-Training erhalten zu haben. Die Teilnehmenden schätzten die mittlere Anzahl der zuvor unabhängig befundeten EKGs auf M=24.90, wobei diese Zahl zwischen den einzelnen Teilnehmenden sehr variierte (SD=66.28), was mit den o.g. Daten übereinstimmte, welche zeigen, dass unter den Teilnehmenden sowohl komplette Anfänger ohne jegliche vorherige eigene Übungspraxis als auch gut geübte Studierende, mit einem Hintergrund z.B. als Rettungssanitäter, waren. Darüber hinaus reflektierte auch das Feedback der Studierenden das Bild einer vielseitigen Stichprobe, was sich z. B. darin zeigte, dass die Teilnehmenden als Gründe für ihre Teilnahme ein breites Spektrum angaben, das von starkem Interesse an einer kardiologischen Weiterbildung über eine strategische Entscheidung die Schulung zur Wiederholung zu nutzen bis hin zum Wunsch, mangelnde EKG-Kenntnisse zu verbessern, reichte. Weitere Merkmale der Stichprobe sind in Tabelle 2 [Tab. 2] dargestellt.
Tabelle 2: Stichprobenmerkmale – zusätzliche Informationen
3.2. Effekte des EYE-EKG Trainings auf die EKG-Befundungskompetenz
Insgesamt verbesserte die Teilnahme an der Studie die EKG-Befundungskompetenz der Teilnehmenden signifikant und mit moderaten Effekten (prä-post Lernzuwachs BS=4.80±9.10, t(90)=5.03, p<.03*10-3, Cohens d=1.27; RS=10.45±10.29, t(90)=9.68, p<.01*10-13, d=1.19; CS=15.97±9.02, t(90)=16.88, p<.03*10-14, d=1.60). Als entscheidend zeigte sich jedoch die Berechnung der unterschiedlichen Lernzuwächse von INT vs. TAU, entsprechend BS ∆M=2.14, RS ∆M=1.25 und CS ∆M=2.19. Dies deutet auf eine höhere, jedoch statistisch nicht signifikante zusätzliche Verbesserung der EKG-Befundungskompetenz der Studierenden der INT-Gruppe durch das EYE-EKG Video hin (BS Welch-t(80.17)=1.11, p<.27, d=0.23; BS Welch-t(87.09)=0.58, p<.57, d=0.12; CS Welch-t(80.82)=1.15, p<.25, d=0.24) (siehe Tabelle 1 [Tab. 1]).
3.3. Identifizierung der besten Prädiktoren für die spezifischen EKG-Befundungsscores
Die Regressionsmodelle (vollumfängliche Ergebnisse siehe Anhang 2 [Anh. 2], Punkt D) zeigten, dass die Variablen insgesamt einen bedeutsamen Einfluss auf die Ergebnisse nach dem Test hatten (alle Modelle waren hochsignifikant) und einen erheblichen Anteil der Varianz beitrugen (R2=44-.63). Die Vereinfachung auf 5-7 Prädiktoren erhöhte die Parsimonie erheblich (R2≈R2adj) und führte nur zu einer relativ kleinen Verringerung der Vorhersagekraft der finalen Modelle im Vergleich zu den ursprünglichen Modellen. Wie erwartet trugen die Prä-Test- Scores signifikant zu allen drei endgültigen Modellen bei. Von besonderem Interesse war daher die Kombination der zusätzlichen signifikanten finalen Prädiktoren: Relevant für BS war in diesem Zusammenhang eine vorherige Kardiologiefamulatur, Interesse an EKGs, Zugänglichkeit des Materials und die Performanz im klinischen Fall 1. Interessanterweise brachte die Vorerfahrung durch die üblicherweise einmonatigen Kardiologiefamulaturen nur einen Vorteil von 3.23%. In ähnlicher Weise war auch die Einschätzung des zur Verfügung gestellten Lernmaterials als relativ einfacher tatsächlich mit einer geringeren Leistung verbunden. Dies könnte auf eine unbedachte Einstellung gegenüber solchen Aufgaben hinweisen, welche als trivial empfunden werden. Die finalen RS wurden auch durch das Interesse an EKGs und durch Fallstudie 1 vorhergesagt; die finalen CS wurden ebenfalls nur durch das Interesse an EKGs vorhergesagt. Ein gutes Abschneiden im ersten Lernszenario schien also sowohl für das anfängliche Erkennen relevanter EKG-Merkmale (BS) als auch für das allgemeine strategische Abwägen zwischen richtigen und falschen Optionen (RS) von großer Bedeutung zu sein, nicht jedoch für das Verständnis praktischer EKG-Szenarien in ihrer Gesamtheit (CS) (siehe Tabelle 3 [Tab. 3]).
Tabelle 3: Liste der in den 3 finalen Regressionsmodellen enthaltenen Prädiktoren
4. Diskussion
Die vorliegende Studie basiert auf der Annahme, dass die EKG-Befundung eine Kernkompetenz von Medizinstudierenden ist und dass es sowohl einen offensichtlichen Bedarf als auch das Potenzial gibt, wegweisende Faktoren für den erfolgreichen Erwerb dieser EKG-Befundungskompetenz zu verstehen. Die vorliegende Studie hatte daher zwei Ziele:
Erstens soll ein Beitrag zur kontinuierlichen Verbesserung der EKG-Lehre durch eine technologiegestützte Darstellung der tatsächlichen EKG-Befundung von Experten geleistet werden. Ein neuartiges Lehrvideo, welches das Blickmuster eines Experten während der EKG-Befundung visualisiert und mit Cued Retrospective Reporting (CRR) Audiokommentaren versehen ist wurde entwickelt, und dessen Nutzen in dieser Lerninterventionsstudie evaluiert.
Zweitens wurden zur Ergänzung der Abschätzung des Trainingspotenzials umfassendere Teilnehmendenmerkmale, objektive und subjektive Lernparameter, motivationale Aspekte und Effekte der einzelnen Lernszenarien gesammelt. Dies wurde bewertet, indem drei verschiedene Strategien zur Operationalisierung erfolgreicher EKG-Befundungskompetenz anhand der während der Studie durchgeführten Tests angewandt wurden. Die zusätzliche Betrachtung dieser personenzentrierten Faktoren kann Einsicht in den Hintergrund liefern, vor dem der interventionsbasierte Kompetenzzuwachs stattfand.
In Bezug auf das erste Forschungsziel, der Evaluation der Videointervention, zeigten die Ergebnisse nach nur 9 Minuten Präsentation einen kleinen positiven Punktunterschied zwischen dem CRR-Training und dem Standard-Training. Dieser Unterschied war jedoch zu gering, um sich bei der vorhandenen Stichprobengröße und gegenüber dem Einfluss des Prä-Tests der theoretischen EKG-Befundungskompetenz durchzusetzen. In Anbetracht der Tatsache, dass ein umfassender Erwerb von EKG-Befundungskompetenz ein mehrjähriger Prozess ist, ist dieses Ergebnis sehr vielversprechend, und die Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Zugang zu Echtzeit-Blickmustern eines Experten und seine damit verbundenen Denkprozesse während der EKG-Befundung als nützliches Lern- und Lehrinstrument weiterentwickelt werden könnten.
Was den potenziellen Nutzen der CRR-Methode für die EKG-Lehre anbelangt, so war das Feedback der Teilnehmenden bezüglich der Intervention entschieden positiv und die Teilnehmenden berichteten übereinstimmend, dass der verbale Inhalt der CRR-Videos hilfreich war. Mehrere Studierende regten jedoch an, dass das isolierte Anhalten des Blicks (also nicht des Films als solchen) an entscheidenden Stellen anstelle einer Endlosschleife – d. h. das Fixieren der Markierung, während die entsprechende auditive Erklärung abgespielt wird – ihnen mehr Zeit geben würde, die besprochenen visuellen Informationen nachzuvollziehen und zu verstehen. Dies ist eine interessante Strategie, die in einem nächsten Schritt in einer Folgestudie untersucht werden könnte.
Hinsichtlich des zweiten Forschungsziels, einer Beleuchtung des Beitrags des persönlichen Hintergrunds der Studierenden, wurden Regressionsanalysen zu drei konzeptionell komplementären EKG-Befundungsscores durchgeführt, nämlich zu Aspekten der EKG-Merkmalserkennung, des strategischen Antwortens und des vollständigen Verständnisses der Patientenvignette. Hierbei kann das Vorhandensein einiger nicht signifikanter Prädiktoren – welche trotz richtungsweisender Tendenzen keinen hinreichend sicheren Beitrag darstellen – in den endgültigen RS- und CS-Regressionsmodelle entweder als Folge der relativ kleinen Stichprobengröße für eine multivariate lineare Regression oder aber als Signal für einen Zusammenhang mit derzeit unerforschten Konzepten interpretiert werden. Der Vergleich der drei Modelle half zunächst zu verdeutlichen, welche Kombination von Prädiktoren grundsätzlich von Bedeutung für die Vorhersage der EKG-Befundungskompetenz der Studierenden ist (z. B. Interesse an EKGs). Darüber hinaus wurden einige spezifische Merkmale identifiziert (z. B. vorherige Kardiologiefamulatur zur Vorhersage des Basis Scores), die nur dann mit den Ergebnissen der EKG-Befundungskompetenz assoziiert sind, wenn bestimmte Leistungsaspekte (z. B. erfolgreiche Merkmalserkennung) berücksichtigt werden. Diese Teilnehmendenmerkmale könnten daher einen Hebel darstellen, um Lehrmethoden so zu gestalten, dass sie für Studierende am motivierendsten sind und bestimmte Outcomes (z. B. die Entwicklung vollständigen Verstehens vs. reiner Merkmalserkennung) gegenüber anderen begünstigen.
Auch das Ergebnis, dass das selbsterklärte Interesse an EKGs in allen Regressionsmodellen eine Rolle spielte, war nicht überraschend und unterstreicht sowohl die Möglichkeit als auch die Notwendigkeit für die Dozierenden über den konkreten Kompetenzfokus, wie er durch das Vorwissen (EKG- Prä-Test) operationalisiert wurde, hinaus eine Neugier auf das Thema zu wecken.
Ein weiteres spezifisches Ergebnis, das einer weiteren Diskussion bedarf, ist der signifikante prädiktive Einfluss des klinischen Falls 1, für den zwei alternative Erklärungen plausibel sind – nämlich Reihenfolgeeffekte oder Inhaltseffekte: Entweder war es generell wichtig, von Anfang an gut mit den Lernkomponenten mit inkrementellem Feedback zurechtzukommen oder aber Szenario 1 (Hinterwandinfarkt) stellte inhaltlich einen Gatekeeper-Inhalt dar, der grundsätzlich verstanden werden musste, bevor die EKG-Befundungskompetenz der Studierenden sich weiterentwickeln konnte. Diese offene Frage könnte in Zukunft durch eine randomisierte Präsentation der klinischen Fälle geklärt werden.
Wenn man nun den Bezug zwischen den gerade benannten Punkten und der ersten Forschungsfrage herstellt, kann die Kenntnis der Stichprobenmerkmale tatsächlich die Evaluation und Weiterentwicklung des EYE-EKG Videos für die EKG-Lehre von Medizinstudierenden unterstützen: Im vorliegenden Design wurden die Teilnehmenden und somit ihre bestehenden EKG-Befundungskompetenzen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, um mögliche Veränderungen, welche auf die Intervention zurückzuführen sind, bestmöglich zu untersuchen. Über den Nachweis eines solchen Lerneffekts hinaus ist es jedoch auch von großer praktischer Relevanz zu ermitteln, welche anderen mitverantwortlichen Personenmerkmale dazu beitragen können, den Nutzen von CRR-Videos zu optimieren. Um nur eines von vielen relevanten zukünftigen Beispielen herauszugreifen ist es denkbar, dass CRR insbesondere für absolute Anfänger (mit sehr geringen Vorkenntnissen der EKG-Befundung) von größerem Nutzen sein könnte, da diese nicht in der Lage wären relevante EKG-Merkmale aus einer getrennten visuellen bzw. auditiven Instruktion eigenständig zu erkennen, und daher besonders von der gleichzeitigen CRR-Video Darstellung profitieren würden. Umgekehrt wäre es alternativ aber auch möglich, dass gerade die fortgeschrittenen Studierenden besser in der Lage sind, Lerngewinn aus den spontanen Echtzeit Experten-Videokommentaren zu ziehen.
5. Limitationen
Die Personenmerkmale deuten darauf hin, dass die Studie eine gewisse Tendenz zur Selbstselektion des Teilnehmendenkreises hatte. Einerseits hatte ein relativ hoher Prozentsatz der Teilnehmenden eine Kardiologiefamulatur absolviert, was zu einer größeren Bereitschaft geführt haben könnte, an dieser thematisch verwandten Studie teilzunehmen, da die Kardiologie für diese Studierenden von großem persönlichen Interesse war. Auf der anderen Seite gab ein ebenso großer Anteil an, noch nie ein explizites EKG-Training erhalten zu haben. Diese Behauptung ist faktisch nicht korrekt (basierend auf den Rekrutierungs-/Einschlusskriterien und dem Lehrplan der örtlichen Universität), steht aber im Einklang mit den verbalen Äußerungen vieler Teilnehmenden, welche ein großes Gefühl der Überforderung, Unvorbereitetheit, Angst und Verzweiflung gegenüber der EKG-Befundung ganz grundsätzlich empfanden. Daher ist es von Bedeutung, dass diese Studie sowohl subjektiv wahrgenommene als auch objektiv leistungsbasierte Messinstrumente umfasste.
Eine weitere interessante Frage, welche in der aktuellen Studie nicht beantwortet werden konnte, ist, welches Fähigkeitsniveau für die EKG-Befundung erforderlich ist, um den größten Nutzen aus CRR-Videopräsentationen mit Eye-Tracking zu ziehen. Während diese spezifische Überlegung mit den aktuellen Daten zum jetzigen Zeitpunkt nicht endgültig geklärt werden kann, könnten einige der oben vorgeschlagenen Stimulusanpassungen dazu beitragen, diese Frage zu beantworten, und könnten in zukünftige Folgestudien einbezogen werden. Die vorliegenden Ergebnisse erweitern jedoch bereits jetzt frühere Anwendungen von CRR [15], [17], [19], [20], [21], [22], indem sie dessen Eignung für medizinische Lernsettings zeigen.
6. Schlussfolgerungen
Ein Thema, das sich aus den Daten zum persönlichen Hintergrund der Studierenden klar herauskristallisierte, ist, dass das Interesse an EKGs eine wichtige Rolle für den Erwerb von EKG-Befundungskompetenz spielt und dass das EYE-EKG Video von den Teilnehmenden als interessant und hilfreich empfunden wurde. Dies wiederum deutet darauf hin, dass die weitere Entwicklung von CRR-Videos für die Lehre der EKG-Befundung für Medizinstudierenden von Nutzen sein kann.
Konkrete Pläne, um die vielversprechenden ersten Ergebnisse eines tendenziell größeren Zugewinns an EKG-Befundungskompetenz derjenigen Studierenden, die das CRR-Videotraining erhalten haben weiter auszubauen sind: erstens, das Video zu modifizieren und zu verbessern, indem das Feedback der Studierenden aus dieser Studie einbezogen wird; zweitens, die Präsentation klinischer Fälle nach dem Zufallsprinzip durchzuführen, um den Beitrag spezifischer Inhalte zu den Lernergebnissen besser zu verstehen; und drittens, weiter zu vertiefen, für welche Zielgruppe und in welchem Setting CRR-Videos den größten Nutzen bringen können.
ORCIDs der Autor*innen
- Aline D. Scherff: [0000-0002-7420-2292]
- Stefan Kääb: [0000-0001-8824-3581]
- Martin R. Fischer: [0000-0002-5299-5025]
- Markus Berndt: [0000-0002-4467-5355]
Interessenkonflikt
Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.
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Anhänge
Anhang 1 | Beispielvideoausschnitt EYE-EKG (Video.mp4, video/mp4, 6.77 MBytes) |
Anhang 2 | Zusatzmaterial (Anhang_2.pdf, application/pdf, 1.12 MBytes) |