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GMS Journal for Medical Education

Gesellschaft für Medizinische Ausbildung (GMA)

2366-5017_N


Dies ist die deutsche Version des Artikels. Die englische Version finden Sie hier.
Artikel
Weiterbildungsordnung

[Wandel in der fachärztlichen Weiterbildung – wie viel didaktische Gestaltung ist überhaupt möglich? Eine Dokumentenanalyse der Weiterbildungsordnungen 1992-2018 mit Fokus auf die Chirurgie]

 Sarah Prediger 1
Daniela Rastetter 2
Sigrid Harendza 1

1 Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, III. Medizinische Klinik, Hamburg, Deutschland
2 Universität Hamburg, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Hamburg, Deutschland

Zusammenfassung

Hintergrund: Die Strukturen der fachärztlichen Weiterbildung werden durch die (Muster-)Weiterbildungsordnung ((M-)WBO) geregelt. Diese formale Strukturierung entsteht im ärztlichen Diskurs zwischen Ärztekammern, Fachgesellschaften und weiteren Verbänden. Dabei zeigen sich verschiedene Entwicklungen in den WBO. In dieser Arbeit wird untersucht, inwiefern Veränderungen auf Ebene der WBO dazu beitragen können, die Weiterbildung in den Kliniken zu verändern und didaktisch zu optimieren.

Methodik: Es wurde eine Dokumentenanalyse der MWBO 1992, 2003 und 2018 mit ergänzendem Fokus auf Aspekte der Chirurgie theoriegeleitet nach Mayring durchgeführt. Hierfür wurden Texte und Inhalte der MWBO verglichen sowie die Worthäufigkeiten analysiert. Ergänzend wurden drei leitfadengestützte Expert*innen-Interviews geführt und inhaltsanalytisch nach Kuckartz mit MAXQDA ausgewertet. Die Auswahl der Expert*innen erfolgte qua Position und ihrer Beteiligung am Anpassungsprozess der MWBO.

Ergebnisse: In der Analyse der WBO zeigen sich Anpassungsbestrebungen, die Weiterbildung in den Kliniken strukturierter und didaktisch optimierter zu gestalten. Es werden Konzepte eingeführt und teilweise wieder abgeschafft (z.B. Fachkunden) oder weiterentwickelt (z.B. Kompetenzen). Die Worthäufigkeitsanalyse zeigt die Nutzung der gleichen acht häufigsten Begriffe, die den grundlegenden Charakter der Weiterbildung zu definieren scheinen. Es zeigen sich außerdem Kommunikationshindernisse zwischen der ärztlichen Selbstverwaltung und den klinischen Akteur*innen, die Veränderungsmöglichkeiten einschränken.

Schlussfolgerung: Für die Umsetzung der WBO in den Kliniken bedarf es einer noch intensiveren Ansprache der Kliniker*innen. Dies sollte nicht nur bei der Ausarbeitung der WBO erfolgen, sondern besonders bei deren Implementierung in den Kliniken selbst, um die neuen Strukturen und didaktischen Konzepte der WBO besser intergieren zu können.


Schlüsselwörter

Ärztliche Weiterbildung, Weiterbildungsordnung, Chirurgie, Didaktik

1. Hintergrund

Die fachärztliche Weiterbildung ist ein wesentlicher Teil des beruflichen Sozialisierungsprozesses von Ärzt*innen. In Deutschland ist er als „Learning-On-The-Job“ konzipiert und erfolgt während des klinischen Arbeitens. Die Ärzt*innen in Weiterbildung sind gleichzeitig Arbeitnehmer*innen in einer Klinik und definiert als Arbeitskräfte, die ihre Weiterbildung während des Arbeitens, also nebenbei, erhalten. Die Strukturen der fachärztlichen Weiterbildung werden durch die Weiterbildungsordnungen (WBO) und Weiterbildungsrichtlinien (WB-RiLi) geregelt. Diese formale Strukturierung entsteht im ärztlichen Diskurs auf Ebene der Ärztekammern, Fachgesellschaften (FG) und weiteren ärztlichen Verbänden und wird somit durch die ärztliche Profession selbst organisiert und durchgeführt. Zunächst wird in diesem Prozess eine Musterweiterbildungsordnung (MWBO) erarbeitet, die nach ihrer Verabschiedung durch den Deutschen Ärztetag (DÄT) mit der Herausgabe einer landesspezifischen WBO durch die jeweils zuständige Landesärztekammer (LÄK) in Landesrecht überführt wird. Im Folgenden wird von MWBO gesprochen, wenn es sich explizit um das Dokument der MWBO handelt, ansonsten wird der allgemein benutzte Begriff der WBO verwendet.

Insgesamt wurden zwischen den Jahren 1924 und 2018 neun WBO herausgegeben. Bei der Betrachtung der historischen Entwicklung der Weiterbildungsstrukturierung in Form der WBO lassen sich drei Prozesse nachzeichnen:

  1. Ausdifferenzierung,
  2. Strukturierung und
  3. Didaktisierung [1].

Die erste Ordnung, noch unter der Bezeichnung „Facharztordnung“, wurde 1924 mit dem Titel: „Leitsätze zur Anerkennung und praktischen Tätigkeiten von Fachärzten“ auf dem 43. DÄT beschlossen. Der Grund für die ersten Leitsätze lag in einer langen Diskussion um die Spezialisierung in der Medizin und das damals etablierte „Vollarzt“-Dasein [2], [3], [4]. Letzteres wurde jedoch durch einen voranschreitenden Spezialisierungsprozess schrittweise aufgelöst. In den darauffolgenden Jahren war die Entwicklung der WBO durch einen Ausdifferenzierungsprozess geprägt, in dem immer mehr fachärztliche Titel definiert wurden. Im Jahr 1968, nun unter dem Titel „Weiterbildungsordnung“, wurden das Konzept der Subspezialisierung eingeführt und erstmals eine Unterteilung in Gebiete, Teilgebiete und Zusatzbezeichnungen vorgenommen. Diese Veränderungen wurden zum einen initiiert, weil sich Spaltungstendenzen in den großen Fächern Chirurgie und Innere Medizin zeigten [4], und zum anderen, weil die Inhalte und Grenzen der Teilgebiete klarer definiert werden sollten [2]. Als Ergänzung der WBO wurden zu diesem Zeitpunkt außerdem erstmalig WB-RiLi als „Handreichung“ für die Weiterbilder*innen, die Weiterzubildenden und die Ärztekammern erlassen. Die WB-RiLi stellen im Detail dar, welches Wissen und Können in der Weiterbildung vermittelt werden musste [4].

Die Einführung von fachärztlichen Prüfungen mit der WBO 1976 führte zu einem Philosophiewechsel weg von der Annahme eines automatischen Erwerbs von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten durch die tägliche Arbeitspraxis hin zu einer zunehmenden Reglementierung mit der Vorgabe verbindlicher Inhalte und Richtzahlen [5]. Ab 1968 flossen insgesamt vermehrt Strukturierungsüberlegungen in die WBO ein. Dafür wurden verschiedene Konzepte zur Strukturierung eingeführt, umbenannt und zum Teil auch wieder verworfen [1]. Die „Teilgebiete“ wurden 1992 in „Schwerpunkte“ umbenannt und sogenannte „Fachkunden“ und „fakultative Weiterbildungen“ eingeführt, um die großen Gebiete in überschaubarer Zeit vermittelbar und spezielle Inhalte optional definierbar zu machen [5]. Seit 2003 zeigen sich neben weiteren Strukturierungsversuchen erstmalig auch Didaktisierungsbestrebungen in der WBO-Ordnung, die sich in der aktuell gültigen WBO 2018 noch verstärkt haben [1]. Die Erarbeitung der WBO 2018 wurde bereits 2010 durch den Auftrag des DÄT beschlossen und zwei Jahre später mit der Forderung nach einer kompetenzbasierten WBO bekräftigt [5], [6]. Daraufhin erarbeitete die „Ständige Kommission Weiterbildung“ (Stäko) mit Vertreter*innen aus LÄK und Bundesärztekammer (BÄK) unter Beteiligung der FG, Berufsverbände, Dachverbände und weiteren ärztlichen Organisationen die aktuell gültige MWBO. Erst seit 2020 wird diese allmählich in den Kliniken umgesetzt, wobei einige LÄK erst 2022 die neue Ordnung in Kraft setzten [1]. Der Prozess der Entwicklung der neuen WBO hat somit über 10 Jahre gedauert, wodurch die Langwierigkeit und Komplexität dieses Veränderungsprozesses deutlich wird. Die zurückhaltende politische Einflussnahme seitens der Bundesländer auf die WBO wird zum Teil kritisch als „quasivollständige staatliche Abstinenz in Sachen ärztlicher Angebotsplanung und Qualitätssicherung“ bewertet und die dadurch bestehenbleibende „dysfunktionale Trennung“ zwischen den Bildungsphasen der medizinischen Aus- und Weiterbildung kritisiert [7].

Anknüpfend an die oben beschriebene Entwicklung der WBO soll in der vorliegenden Arbeit mit Hilfe der Analyse der Anpassung der WBO zwischen 1992 und 2018 der Frage nachgegangen werden, inwiefern die angestrebten Veränderungen dazu beitragen können, die fachärztliche Weiterbildung in den Kliniken zu verändern und didaktisch zu optimieren.

2. Methoden

Die hier dargestellte qualitative Studie ist Teil einer umfangreicheren Studie zur fachärztlichen Weiterbildung am Beispiel der Chirurgie, die 2019 durchgeführt wurde [1]. Es wurde eine Analyse der formal-definierten Struktur für die fachärztliche Weiterbildung in Form der MWBO durchgeführt. Dies erfolgte sowohl allgemein gültig für die fachärztliche Weiterbildung als auch für spezifische Aspekte der Chirurgie. Es wurde ein Forschungsdesign mit einer Methoden-Triangulation [8] aus einem nicht-reaktiven Verfahren (Dokumentenanalyse der MWBO 1992, 2003 und 2018) und ergänzend einem reaktiven Verfahren (qualitative, leitfadengestützte Expert*innen-Interviews) gewählt, um die jeweiligen methodischen Grenzen zu überwinden. Die Dokumentenanalyse als Hauptmethode wurde theoriegeleitet nach Mayring [9] durchgeführt. Dabei wurde eine Analyse auf Unterschiede durchgeführt, wofür die Texte und Inhalte verglichen sowie Worthäufigkeiten analysiert wurden. Dies erfolgte mit Hilfe von MAXQDA 2020 (Version 20.4.1). Außerdem wurde die Entwicklung der sogenannten ‚OP-Kataloge‘ untersucht, in denen die Richtzahlen für operative Eingriffe lt. WB-RiLi verglichen wurden. Die Auswahl der drei MWBO ergab sich aus der Betrachtung der historischen Gesamtentwicklung, da in diesen drei Ordnungen stärkere Anpassungen vorgenommen wurden und, wie oben angedeutet, erstmalig deutlichere Strukturierungs- und Didaktisierungsbestrebungen in die MWBO mit einflossen. Zum vertiefenden Verständnis der vollzogenen Änderungen sowie der immanenten Systemlogik wurden ergänzend zur Dokumentenanalyse Expert*innen-Interviews mit am Prozess beteiligten Akteur*innen durchgeführt. Hierbei handelt es sich nicht um ein einzelfallanalytisches Vorgehen, sondern um die Fokussierung des Expert*innen-Status. Es wurde jeweils ein*e Expert*in aus der Bundesärztekammer (103min), ein*e aus der Landesärztekammer (68min) und ein*e aus der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (59min), die aktiv am Prozess beteiligt waren, ausgewählt, um die drei relevanten Perspektiven abzudecken. Aufgrund der Auswahl von gut informierten Expert*innen wurde die Anzahl von einer Person pro Perspektive als ausreichend bewertet. Die Interviews wurden audiodokumentiert, mit f4transkript (Version 7.0.6) transkribiert und mit MAXQDA 2020 inhaltsanalytisch nach Kuckartz [10] ausgewertet.

3. Ergebnisse

Bei der Analyse der genutzten Begrifflichkeiten im Rahmen der Worthäufigkeitsanalyse zeigt sich die Nutzung der gleichen acht Begriffe in allen drei WBO innerhalb der jeweiligen Liste der 25 häufigsten:

  1. Weiterbildung,
  2. Gebiet,
  3. Behandlungsmethoden,
  4. Erkrankungen/Krankheiten,
  5. Kenntnisse,
  6. Erfahrungen,
  7. Fertigkeiten und
  8. Grundlagen.

Diese Begriffe scheinen somit den grundlegenden und zeitlich beständigen Charakter der Weiterbildung zu definieren, den die WBO widerspiegeln soll. In der WBO geht es somit um die Differenzierung nach (medizinischen) „Gebieten“. Außerdem geht es um das Erlernen von „Behandlungsmethoden“ für verschiedene „Erkrankungen/Krankheiten“ und dabei um den Erwerb von „Kenntnissen“, „Fertigkeiten“ und „Erfahrungen“. So werden die „Grundlagen“ für die Arbeit als Fachärzt*innen in den jeweiligen Fachgebieten geschaffen.

Der Dokumentenvergleich hinsichtlich der Strukturierung und Didaktisierung ergab zwei wesentliche Veränderungen (siehe Abbildung 1 [Abb. 1]). Im ersten Schritt (von 1992 zu 2003) lässt sich die Veränderung klassifizieren durch eine verbesserte textliche Übersichtlichkeit und mehr Transparenz sowie durch grundlegende strukturelle Anpassungen. Eine Übersicht dieser Anpassungen findet sich in Tabelle 1 [Tab. 1].

Tabelle 1: Zusammenfassende Darstellung der wichtigsten Veränderung zwischen den MWBO

Abbildung 1: Visueller Vergleich des Aufbaus der drei MWBO (1992, 2003 und 2018) und Darstellung der Anpassung

Die Strukturanpassung initiierte ab 2003 eine frühestmögliche Spezialisierung innerhalb der ersten fachärztlichen Weiterbildung. Seitdem wird nicht mehr zunächst die fachärztliche Weiterbildung zur Chirurgin oder zum Chirurgen absolviert und danach eine Schwerpunktbezeichnung ergänzend erworben, beispielsweise zur Viszeralchirurgie, sondern bereits direkt nach der Approbation eine fachärztliche Weiterbildung in „Viszeralchirurgie“ absolviert. Hier wurde eine deutliche Verkürzung in Jahren und Anforderungen in der WBO vorgenommen. Dies zeigt sich auch beim Vergleich der vorgeschriebenen Richtzahlen zwischen 1992 im Schwerpunkt „Viszeralchirurgie“ mit den Zahlen, die ab 2003 für die fachärztliche Weiterbildung „Viszeralchirurgie“ vorgeschrieben wurden (siehe Tabelle 2 [Tab. 2]). Die vorgeschriebenen Richtzahlen weisen auf eine bereits 1992 stärker verfolgte Strukturierung und auch Regulierung des Bereiches der Untersuchungs- und chirurgischen Behandlungsmethoden hin. Während 1987 noch keinerlei Vorgaben hierzu gemacht wurden, wurden diese ab 1992 deutlich mit quantitativen Vorgaben festgeschrieben. Auch wenn von 1992 auf 2003 diese Richtzahlen wieder stark reduziert wurden, bleibt die Strukturierung dieses Bereiches in den Zahlen erhalten. Die Richtzahlen für die operativen Eingriffe reduzierten sich von 1987 zu 1992 und erhöhten sich dann im Bereich der Allgemeinchirurgie erst ab 2018 wieder. Die Vergleichbarkeit der Zahlen zwischen 1992 und 2003 ist insgesamt etwas eingeschränkt, da das Konzept der Basisweiterbildung eingeführt wurde, die die ersten zwei Jahre der Weiterbildung umfassen sollte. Für die Interpretation der veränderten Mengen muss diese Änderung daher gedanklich miteinbezogen werden. In der Tabelle 2 [Tab. 2] sind die Richtzahlen der Basisweiterbildung in einer zusätzlichen Spalte („Basis“) eingefügt. Diese müssen jeweils zu den Zahlen der Allgemeinchirurgie (in der Tabelle: „Allgemein“) bzw. zu der Spalte der Viszeralchirurgie hinzugerechnet werden, um eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen.

Tabelle 2: Entwicklung der Richtzahlen im Vergleich

Rückblickend wird die konzeptionelle Einführung der Basisweiterbildung seitens der BÄK relativiert:

„Wissen Sie, das Wort Basisweiterbildung ist irreführend. Es war nämlich keine BASISweiterbildung. Es war IMMER und so haben wir es auch definiert, aber nie verschriftlicht, es waren die Schnittfelder zwischen den einzelnen Spezialisierungen.“ (BÄK: 24)

Ergänzend zeigen sich neben der strukturellen Anpassung erste didaktische Überlegungen im Übergang von MWBO 1992 zu MWBO 2003, wie die neu vorgeschriebene Dokumentationspflicht in sogenannten Logbüchern und jährliche Weiterbildungsgespräche.

Im zweiten Schritt (von 2003 zu 2018) wurde das Ziel der Novellierung, nämlich eine grundlegende Neugestaltung mit dem Fokus auf Inhalten und Kompetenzen statt auf Zeitvorgaben mit „didaktisch adäquate[n] und versorgungsgerechte[n] [Richtzahlen]“ [11] umgesetzt. Dazu sollte mit der WBO 2018 eine weitere Verbesserung der Qualität und Transparenz geschaffen werden (u.a. mit Hilfe des elektronischen Logbuches und mit Weiterbildungsplänen). Mit der Einführung des Kompetenzbegriffs in der MWBO 2003 wurden sprachliche Änderungen diesbezüglich vorgenommen. Kompetenz wird unter Begriffsbestimmungen (§2a) erstmals definiert und dann vermehrt genutzt (196 Nennungen, davon 12 im Paragraphenteil, im Vergleich zur einmaligen Nennung in der MWBO 1992). Hieran lässt sich bereits die anfängliche Integration des Kompetenzkonzepts ablesen. In der MWBO 2018 expandiert die Nutzung der Kompetenzbegrifflichkeiten deutlich. In der neu eingeführten tabellarischen Darstellung der fachärztlichen Inhalte (in Abschnitt B) werden die verschiedenen Kompetenzebenen (kognitive und Methodenkompetenz bzw. Handlungskompetenz) als Tabellenspalten dargestellt (vgl. Abbildung 1 [Abb. 1]). Dies führt zu einer entsprechend häufigeren Nutzung der Begriffe (Kompetenz: 70 Nennungen; Handlungskompetenz, kognitive und Methodenkompetenz: je 418 Nennungen). Die deutlich gestiegene Anzahl der Wortnutzungen dieser Begrifflichkeiten weist auf die umfassende Integration des Kompetenzkonzeptes hin. Die Kompetenzbasierung soll sich außerdem auch im Umgang mit den Richtzahlen zeigen:

„(…) unabhängig von der Richtzahl, auch wenn wir Richtzahlen haben, ist die nicht maßgeblich. Maßgeblich ist, wenn der Befugte sagt, er kann das jetzt und wenn da nur 30 stehen, der kann es nach 90mal nicht, dann kriegt er normalerweise nicht das Kreuz.“ (BÄK: 44)

Im Zuge der Novellierung wurde darüber nachgedacht, die Richtzahlen ganz abzuschaffen. Dies wurde jedoch von den Ärzt*innen in Weiterbildung abgelehnt:

„[Es sollte] überhaupt keine Richtzahlen [mehr geben], weil (…) Kompetenz lässt sich nicht an Zahlen festmachen. Das haben (…) [uns] die jungen Assistenten aber sofort links und rechts um die Ohren geschlagen, haben gesagt, wir brauchen die Richtzahlen als Druckmittel, damit wir überhaupt dort bestimmte Leistungen da bekommen.“ (LÄK: 49)

In der MWBO 2018 wurde das Konzept der Basisweiterbildung wieder abgeschafft. Stattdessen wurden jedoch bei den fachärztlichen Weiterbildungen die übergreifend wichtigen Weiterbildungsinhalte innerhalb der Gebiete übereinstimmend eingefügt, so dass die Basisweiterbildung in jede fachspezifische Weiterbildung integriert sein soll. Diese Umsetzung der konzeptionellen Überlegung wurde in der

„JETZIGE[N] inhaltliche[n] Beschreibung (…) VIEL besser hinbekommen“, was zu der Annahme seitens der BÄK führt, dass diese Neuerung „mehr gelebt werden“ wird (BÄK: 24).

Auf der anderen Seite wird bei der grundsätzlichen Betrachtung der Novellierung im Expert*innen-Interview auf die Problematik in der Wechselwirkung zwischen Vorgaben der WBO sowie zwischen den Erwartungen aller Beteiligten und der Umsetzung in den Kliniken aufmerksam gemacht:

„Also wir können ja vorgeben, was wir wollen, es muss auch vor Ort umsetzbar sein. (…) Ob das dann wirklich auch vor Ort passiert, kann man erst sagen, wenn tatsächlich so die ersten Assistenten da im Weiterbildungsbetrieb dann auch sind.“ (BÄK: 43)

In den Aussagen wird somit eine Differenz aufgemacht zwischen den schriftlich fixierten formalen Regeln der WBO (abgeschlossen) und der „gelebten“ Praxis innerhalb der Kliniken (noch nicht umgesetzt). Seitens der LÄK werden dazu Umsetzungsprobleme in Form von „Widerstände[n]“ benannt.

„Die Beharrungswiderstände (…) [seien] nirgends so groß wie im Medizinbetrieb.“ (LÄK: 93).

Außerdem werden die Überführung der MWBO in Landesrecht und die dabei mögliche Einflussnahme seitens der LÄK zum Teil kritisch gesehen, was durch die Betitelung als „Fürsten“, die somit die Macht über die WBO hätten, deutlich wird:

„Und die Bundesärztekammer gibt es dann weiter an die 17 Landesärztekammern und was die dann machen, das können die Fürsten bestimmen. (…) Die haben ganz andere Einstellungen. Und das ist unser Manko. Und das müssen wir endlich ändern.“ (FG: 1)

Die Aussagen deuten auf einige Hindernisse für die Kommunikation zwischen den Akteur*innen der ärztlichen Selbstverwaltung und der klinischen Praxis hin, die Veränderungsmöglichkeiten einschränken und Konfliktpotenzial mit sich führen.

4. Diskussion

Bei der Analyse der WBO und den umgesetzten Veränderungen wurden viele Versuche der ärztlichen Selbstverwaltung sichtbar, die Weiterbildung in den Kliniken realitätsnäher und didaktisch optimierter zu gestalten. Dabei zeigen sich Konzepte, die neu eingeführt und in der nächsten WBO dann wieder herausgenommen wurden (Fachkunden, fakultative Weiterbildung, Basisweiterbildung). Andere wurden weiterentwickelt, wie die Einführung des Kompetenzkonzepts im Sinne einer kompetenzbasierten medizinischen Weiterbildung [12]. Auch das didaktische Instrument des Logbuches zur Dokumentation der Weiterbildungsinhalte wurde weiterentwickelt. Dies geschah aufgrund der vermuteten, häufig noch nicht adäquaten Nutzung in der Klinik. Mit der neuen elektronischen Variante ist eine starke Verknüpfung mit dem Operationen- und Prozedurenschlüssel-System (OPS-System) verbunden. Das elektronische Logbuch animiert so eher zu einer fortlaufenden Nutzung statt zu einem bisher vielfach etablierten händischen Ausfüllen erst am Ende der Weiterbildung [1], was ein angestrebtes Ziel zur besseren Nutzung in der Klinik gewesen sein könnte. Die Suche nach einer für die Praxis sinnvollen Strukturaufteilung zeigt sich als implizites Ziel über Jahrzehnte (begonnen mit der WBO 1968) [1], was in den drei untersuchten WBO dann noch einmal intensiviert zu sehen ist.

Inwiefern die Strukturanpassungen und didaktischen Gestaltungsansätze der WBO die Weiterbildungspraxis in den Kliniken beeinflussen können, hängt davon ab, wie die Kliniker*innen die WBO wahrnehmen und ob sie diese akzeptieren und damit „lebendig“ machen oder sie nur in manchen Aspekten dulden. Wie gezeigt wurde, werden acht Begrifflichkeiten übereinstimmend in den drei untersuchten WBO genutzt. Diese Begriffe geben somit den grundsätzlichen, unveränderten und anerkannten Charakter der Weiterbildung wieder. Weiterbildung, definiert als ärztliches Berufsrecht, das die Berufsausübung regelt [13], ist wiederum ein Recht, das von den Landesregierungen auf die ärztliche Selbstverwaltung (in Form der LÄK) übertragen wurde. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass eine grundsätzliche formale Regelung der Weiterbildung auch seitens der Kliniker*innen als legitim angesehen wird. Alles, was jedoch über diese basale Regulierung hinausgeht und versucht, tatsächlich eine Bildungsordnung mit didaktischem Konzept umzusetzen (ein offen bekundetes Ziel seitens der externen Weiterbildungsakteur*innen), läuft dabei Gefahr, seine etablierte, natürlich gegebene Legitimation zu verlieren und ggf. als extern aufgezwungen wahrgenommen zu werden. Neuerungen in der WBO wurden stets kontrovers diskutiert. Alle grundlegenden Veränderungen, wie beispielsweise die Einführung der ‚fakultativen Weiterbildung‘ für die WBO 1992 [14], die Einführung der frühzeitigen Spezialisierung für die MWBO 2003 mit Basisweiterbildung oder das Kompetenzkonzept der WBO 2018, scheinen seitens der Kliniker*innen erst einmal kritisch betrachtet zu werden [1]. Für die WBO 2018, die erst nach und nach in den Kliniken umgesetzt wird, zeigt eine erste Studie, dass chirurgische Weiterbilder*innen und Weiterzubildende davon ausgehen, dass die Veränderungen in den Richtzahlen – mehr Festlegung im Vergleich zu der WBO 2003, was genau anerkannt werden kann – dazu führen, dass die fachärztlichen Titel nicht mehr innerhalb der „bisher üblichen Zeit“ und ohne Überstunden erreicht werden können [15], was eine kritische Haltung seitens der Kliniker*innen widerspiegelt. Dies überrascht besonders, weil die Richtzahlenfestlegung sich eigentlich an den Vorschlägen der Fachgesellschaften orientieren soll und das erklärte Ziel der neuen WBO war, mehr auf die Kompetenzerlangung, denn auf festgelegte Richtzahlen zu fokussieren. Hier scheint, zumindest in der Wahrnehmung der Kliniker*innen, das Ziel ggf. nicht erreicht zu werden. Grundsätzlich ist hier auch nochmal die Frage aufzuwerfen, inwieweit das Kompetenzkonzept überhaupt mit einer weiterhin bindenden Festlegung von (Mindest-)Richtzahlen harmoniert. Die aktuell geltende WBO scheint dabei eine Kompromisslösung zu sein, zwischen einer konsequenten Umsetzung des Kompetenzkonzepts, in der eine festgelegte Anzahl von Durchführungen eigentlich nicht mehr pauschal gleichzusetzen sein sollte mit Kompetenzerwerb, und der Forderung vieler Ärzt*innen in Weiterbildung, die gegen eine Abschaffung der Richtzahlen plädiert hatten.

Die Kliniker*innen scheinen insgesamt eine ambivalente Haltung zur WBO zu haben, wie die umfangreichere Studie zur Weiterbildungskultur zeigte [1]. Einerseits werden Wünsche nach mehr Strukturierung formuliert, anderseits zeigte sich vermehrt die Angst vor externer Kontrolle. Grundsätzlich scheint der Weg der ärztlichen Selbstverwaltung mit der WBO also der richtige zu sein, auch wenn Schritte nach vorn, zur Seite und wieder zurück durch die Einführung, Anpassung und zum Teil wieder Abschaffung von Strukturkomponenten getätigt wurden. Wichtig bleibt der Abgleich zwischen theoretischen Konzepten und den Umsetzungsmöglichkeiten in der Praxis, auch unter dem Gesichtspunkt der Situation in den Krankenhäusern mit Personal- und Zeitknappheit.

5. Schlussfolgerung

In dieser Analyse wurde gezeigt, wie die WBO über die Jahre eine stärkere Strukturierung und didaktische Gestaltung erfahren hat. Für die Umsetzung der kompetenzbasierten WBO 2018 und zukünftiger WBO in den Kliniken bedarf es einer noch intensiveren Ansprache der Kliniker*innen, die die essenziellen Umsetzer*innen der WBO in den Kliniken sind. Dies sollte nicht nur bei der Ausarbeitung der WBO erfolgen, sondern besonders bei deren Implementierung in den Kliniken selbst. Insbesondere für die Umsetzung von didaktischen Konzepten, wie der kompetenzbasierten Weiterbildung als inhärentem Teil der täglichen Weiterbildungspraxis, sollten die Weiterbilder*innen entsprechend vorbereitet werden.

Anmerkung

Dieser Artikel basiert größtenteils auf „Habitualisierung im ärztlichen Feld. Die fachärztliche Weiterbildung in Struktur und kultureller Praxis“ [1]. Für die Neuveröffentlichung der Inhalte hat Springer Fachmedien Wiesbaden eine Genehmigung erteilt.

Ethik

Dieses Projekt wurde in Übereinstimmung mit der Erklärung von Helsinki durchgeführt. Die Teilnahme an der Interviewstudie war freiwillig und die Daten wurden pseudonymisiert ausgewertet und für die Veröffentlichung anonymisiert. Es liegen schriftliche Einwilligungserklärungen vor.

ORCIDs der Autor*innen

Danksagung

Besonderer Dank gilt den Interviewpartner*innen, ohne deren Bereitschaft offen mit SP zu sprechen und Einblicke in ihre Wahrnehmungen zu gewähren, diese Studie nicht möglich gewesen wäre. Darüber hinaus danken wir der Bundesärztekammer, die die Dokumente der älteren MWBO freundlicherweise bereitgestellt hat.

Interessenkonflikt

Die Autor*innen erklären, dass sie keinen Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Artikel haben.


Literatur

[1] Prediger S. Habitualisierung im ärztlichen Feld: Die fachärztliche Weiterbildung in Struktur und kultureller Praxis am Beispiel der Chirurgie. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden; 2023. DOI: 10.1007/978-3-658-41593-8
[2] Sewering HJ. Von der „Bremer Richtlinie“ zur Weiterbildungsordnung. Dtsch Arztebl. 1987;84(36):A-2299. Zugänglich unter/available from: https://www.aerzteblatt.de/archiv/116831/Von-der-Bremer-Richtlinie-zur-Weiterbildungsordnung
[3] Hoppe JD. Leitlinien einer Reform der ärztlichen Weiterbildung. Dtsch Arztebl. 1991;88(45):A-3820. Zugänglich unter/available from: https://www.aerzteblatt.de/archiv/101205/Leitlinien-einer-Reform-der-aerztlichen-Weiterbildung
[4] Hoppe JD. Die Weiterbildungsordnung: Von der Schilderordnung zum integralen Bestandteil der Bildung im Arztberuf. Dtsch Arztebl. 1997;94(39):A-2483-2491.
[5] Bartmann F. Die Novellierung der Musterweiterbildungsordnung: Ziele und Schwerpunkte. Urologe. 2018;(57):898-901. DOI: 10.1007/s00120-018-0688-1
[6] Bundesärztekammer. TOP IV Weiterbildung: Kompetenzbasierte Weiterbildung. In: Bundesärztekammer, editor. 115. Deutscher Ärztetag, Beschlussprotokoll. Berlin: Bundesärztekammer; 2012. p.130.
[7] Van den Bussche H, Niemann D, Robra BP, Schagen U, Schücking B, Schmacke N, Spies C, Trojan A, Koch-Gromus U. Zuständigkeiten und Konzepte zur ärztlichen Ausbildung und Weiterbildung: Ein Plädoyer für eine Neuorientierung [Responsibilities and concepts for undergraduate and postgraduate medical education in Germany : A plea for a reorientation]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 2018;61(2):163-169. DOI: 10.1007/s00103-017-2675-x
[8] Flick U. Triangulation in der qualitativen Forschung. In: Flick U, von Kardorff E, Steinke I, editors. Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag; 2017. p.309-318. DOI: 10.1007/978-3-658-18387-5_23-1
[9] Mayring P. Einführung in die qualitative Sozialforschung: Eine Anleitung zu qualitativem Denken. 6th ed. Weinheim, Basel: Beltz; 2016.
[10] Kuckartz U. Qualitative Inhaltsanalyse: Methoden, Praxis, Computerunterstützung. 2nd ed. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2014.
[11] Bundesärztekammer. 120. Deutscher Ärztetag: Beschlussprotokoll. Berlin: Bundesärztekammer; 2017.
[12] Ten Cate O. Competency-based postgraduate medical education: Past, present and future. GMS J Med Educ. 2017;34(5):Doc69. DOI: 10.3205/zma001146
[13] Hoppe JD. Weiterbildungsordnung. Gestaltungskraft erhalten. Dtsch Arztebl. 1997;94(15):A-964-966. Zugänglich unter/available from: https://www.aerzteblatt.de/archiv/5883/Weiterbildungsordnung-Gestaltungskraft-erhalten
[14] Dauth S. Weiterbildungsordnung: Fachkundenachweise befürwortet, fakultative Weiterbildung abgelehnt. Dtsch Arztebl. 1992;89(21):A-1937. Zugänglich unter/available from: https://www.aerzteblatt.de/archiv/95112/Weiterbildungsordnung-Fachkundenachweise-befuerwortet-fakultative-Weiterbildung-abgelehnt
[15] Schardey J, Huber T, Kappenberger AS, Horné F, Beger N, Weniger M, Werner J, Kühn F, Wirth U. Erwartete Effekte der neuen Weiterbildungsordnung in der Allgemein- und Viszeralchirurgie: Eine Umfrage unter bayerischen Chirurg*innen und Weiterbildungsassistent*innen. Chirurgie. 2023;94(2):155-163. DOI: 10.1007/s00104-022-01738-0
[16] Bundesärztekammer. (Muster-)Weiterbildungsordnung: (MWBO). Berlin: Bundesärztekammer; 1992.
[17] Bundesärztekammer. (Muster-)Weiterbildungsordnung: (MWBO). Berlin: Bundesärztekammer; 2003.
[18] Bundesärztekammer. (Muster-)Weiterbildungsordnung: (MWBO). Berlin: Bundesärztekammer; 2018.
[19] Bundesärztekammer. Richtlinien über den Inhalt der Weiterbildung. Berlin: Bundesärztekammer; 1988.
[20] Bundesärztekammer. (Muster-)Richtlinie. MWB-RiLi. Berlin: Bundesärztekammer; 1994.
[21] Bundesärztekammer. (Muster-)Richtlinien. MWB-RiLi. Berlin: Bundesärztekammer; 2004.